Gemüse von oben

Noch einmal genauer für die Süddeutsche Zeitung recherchiert: Die neuen Pariser Gemüseplantagen. Und das ist erst der Anfang…

Gemüse von oben

Paris wächst: In großem Stil und mit städtischer Förderung entstehen auf vielen Dächern Nutzgärten. Man kann sie besichtigen und dann die Ernte in den Restaurants darunter verkosten

Hinter einer Wand aus Rosmarin wuchern die Kamine und Türmchen auf dem Dach des Rathauses in den Himmel. Zwischen Himbeerranken sticht die Juli-Säule an der Bastille aus dem Dunst über der Hauptstadt. Durch eine Lücke zwischen Salbei und Thymian leuchtet bunt das Röhren-Wirrwarr des Centre Pompidou. Wie eine grüne Insel liegt der üppig wuchernde Garten im Schiefermeer der Pariser Dachlandschaft. Das Hupen und Dröhnen, das irgendwo da unten vorbeibrandet, scheint unendlich weit weg zu sein.

Regelmäßig führt Marie Dehaene Einheimische und Touristen über ihren Arbeitsplatz. „Man muss allerdings wetterfest sein und früh aufstehen können“, hebt die junge Agrarwissenschaftlerin beinahe entschuldigend einen kleinen Nachteil ihres Jobs hervor, wohl um den Neid der Besucher nicht übermächtig werden zu lassen. Wir befinden uns auf dem Dach des „Bazarde l’Hôtel de Ville“ (BHV), eines Traditionskaufhauses im Herzen von Paris, unmittelbar neben dem Rathaus. Die gut 500 Quadratmeter Dachfläche sind an ein Startup mit dem Namen „Sous les fraises“ („Unter den Erdbeeren“) vermietet, das ursprünglich aus Grenoble stammt und 2014 begann, Wurzeln auf Pariser Kaufhausdächern zu schlagen.

Es handelt sich dabei nicht einfach um eine nett anzusehende Behübschungsmaßnahme. Dank vertikaler Beete aus Hanfgeflecht und Erde mit integriertem Bewässerungssystem verdreifacht sich der verfügbare Platz. Auf dem Dach des BHV entstehen auf diese Weise 1400 Quadratmeter Nutzfläche, auf der 22.000 Pflanzen wachsen. Allein sechs Tonnen Tomaten ernten die Gärtner pro Saison auf dem eleganten Warenhaus, bei fantastischem Rundblick über die Stadt.

„Die Transformation der Stadt beginnt auf dem Teller“, erklärt Yohan Hubert, der Gründer von Sous les fraises, die Idee hinter seinem Start-up. In Frankreich geht nicht nur die Liebe durch den Magen, sondern auch die Entwicklung der Millionenstadt. Die Küchenchefs von 70 Pariser Restaurants, vom gehypten Newcomer Mokonuts bis zum edlen Drei-Sterne-Lokal Astrance, kaufen heute Gemüse, Beeren, Kräuter und Salate, die in mittlerweile 18 Dachfarmen unter dem Himmel von Paris gezogen werden. Nicht nur Köche zählen zum Kundenkreis: Die Pariser Brasserie de l’Être braute im vergangenen Jahr 10.000 Flaschen Bier aus dem Pariser Dachhopfen, eine Destillerie aromatisiert Gin mit Kräutern vom Dach des BHV. Bis zu 800 kg Honig sammelt Imker Gaël Cartron proSaison in 14 über die Pariser Dächer verteilten Bienenstöcken. Auch die Konfitürenmarke Confiture Parisienne und der beliebte Eissalon Une glace à Paris legen Wert auf Zutaten, wie sie lokaler und vor allem frischer kaum sein könnten.

„Uns ist klar, dass wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, als Teil einer Sache, die viel größer ist als wir“, sagt Hubert. „Wir sind aber keine Revolutionäre, sondern glauben einfach daran, dass sich die Konsumgewohnheiten gerade ändern.“ Sous les fraises ist nach langen Jahren der Entwicklung mittlerweile wirtschaftlich erfolgreich. Eine wichtige Starthilfe dabei war die Stadt, die durch Ausschreibungen des Programms „Réinventer Paris“ („Paris neu erfinden“) innovative Projekte förderte – über diese Schiene kam Sous les fraises aus Grenoble in die Hauptstadt.

2017 lancierte Bürgermeisterin Anne Hidalgo ein weiteres Projekt, um der Stadt einen nachhaltigen Stempel aufzudrücken: Unter dem Titel „Parisculteurs“ verpflichteten sich 74 Unternehmen und Institutionen dazu, binnen drei Jahren 100 Hektar Grünflächen in Paris zu schaffen, ein Drittel davon reserviert für die Lebensmittelproduktion. Diese findet nicht immer in luftigen Höhen statt: In einer alten Tiefgarage unter einem großen Wohnblock, in der vor wenigen Jahren noch Drogendealer und Prostituierte auf motorisierte Kundschaft warteten, flitzen heute täglich Dutzende Lastenräder ein und aus, die die Pariser Bio-Läden beliefern. Die Parkplatz-Markierungen sind noch sichtbar, doch sonst ist die Garage nicht wiederzuerkennen. Sie heißt nun La Caverne und ist Standort des Start-ups Cycloponics, das dort in der vergangenen Saison 25 Tonnen Pilze und 60 Tonnen Chicorée erntete, die kein Licht brauchen. „Für manche Gemüsesorten herrschen hier geradezu ideale Bedingungen. Die Temperatur ist konstant, und wir haben mit 9000 Quadratmetern ausreichend Platz“, erklärt Caverne-Mitbegründer Jean-Noël Gertz, ein freundlicher 30-Jähriger mit Vollbart und langen Haaren.

Das Parisculteurs- Programm geht mittlerweile ins dritte Jahr. Eine Hopfenplantage auf dem Dach der Bastille-Oper und zahlreiche Blumen-und Gemüsegärten auf den Dächern oder in den Innenhöfen von Schulen, Kindergärten oder Postämtern zählen zu den von der Stadt Paris stolz präsentierten Projekten, die den Grünanteil der dichtest besiedelten Stadt Europas spürbar erhöhen sollen.

Dafür sorgen aber auch die Pariser selbst: „Es gibt hier eine echte Dynamik, einen Wandel zu mehr Umweltbewusstsein in allen Bereichen, von der Bauwirtschaft bis zur Produktion von Lebensmitteln, und vor allem wirklich viele Menschen, die das ernst meinen“, so Yohan Hubert. Wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, wird bestätigen: Zwischen Dach- und Tiefgeschoß sprießt und gedeiht es an allen Ecken und Enden. Tempo und Ausmaß, in dem Glashäuser, Nachbarschaftsgärten, Vertikal- und Dachfarmen aus dem Pariser Pflaster wachsen, wirken ambitionierter als andernorts.

Einer der Gründe dafür: Die fürs selbstgezogene Grün begeisterten Bürger bekommen in Paris auch die entsprechenden Mittel zur Verfügung gestellt, um ihre Projekte umzusetzen. 2014 führte Anne Hidalgo ein „partizipatives Budget“ ein. Etwa hundert Millionen Euro pro Jahr werden seither für Projekte vergeben, die jeder einreichen kann. Nach Überprüfung der Machbarkeit und einer Vorauswahl stimmen die Bewohner der Stadt darüber ab, was verwirklicht wird.

Seit Paris das im brasilianischen Porto Alegre entwickelte Modell als erste europäische Metropole im großen Maßstab anwendet, eröffnen in der französischen Hauptstadt laufend verpackungsfreie Läden, wird der öffentliche Raum durch Kunst verschönert, vor allem aber werden Gemüsebeete angelegt und Straßen begrünt. Die Partizipation verbessert nicht nur die Pariser Luft, sondern auch das soziale Klima: „Bereits der Planungsprozess verändert das Leben im Viertel, da sich viele Nachbarn dadurch erstkennenlernen“, erzählt Architektin Concetta Sangrigoli, die mit ihrem Stadtplanungsbüro Oikos gemeinsam mit 150 Anrainern ein Stück der alten Bahnlinie „Petite Ceinture“ in einen Garten verwandelt hat. Die 1934 stillgelegte Bahn umrundete einst die Hauptstadt und lag jahrzehntelang brach, ehe ihre Trasse seit wenigen Jahren stückweise der Öffentlichkeit zurückgegeben wird. Der neue Gemeinschaftsgarten liegt im migrantisch geprägten Épinettes-Viertel im Norden der Stadt. Der einst schmale, am abgesperrten Bahngelände entlang führende Park Jean-Paul Didier ist nun teilweise doppelt so breit wie zuvor, monatelang haben die Bewohner gemeinsam mit Bildhauern an Trockensteinmauern aus wiederverwendetem Baumaterial gebaut. „Die Menschen im Viertel legten aber auch besonderen Wert darauf, dass ein Teil der Wildnis als Lebensraum für Pflanzen und Tiere erhalten bleibt und der neue Stadtraum für Menschen jeden Alters benutzbar ist“, sagt Concetta Sangrigoli. Ein weiterer Nebeneffekt: „Es gibt kein Problem mit Vandalismus. Die Leute verbringen viel Zeit in ihrem Park und gehen sorgsam damit um.“

Der Garten auf dem Bahngleis führt zu einem Bahnhof, der vor wenigen Jahren zum Kulturzentrum Le Hasard Ludique umgebaut wurde, einem quirligen Ort mit ständig wechselnden Ausstellungen und Konzerten, einem bunten Kursprogramm von Kalligrafie bis Yoga sowie einem Restaurant, das bei Schönwetter seinen Gastgarten auf den alten Bahnsteigen öffnet, weit unterhalb des Straßenniveaus. Nur wenige Schritte hinter dem Kulturbahnhof liegt schon der nächste urbane Gemüsegarten: Es handelt sich um die Stadtfarm der „Recyclerie“, eines weiteren zum Restaurant transformierten Bahnhofs. Sie zeigt, wie fest das urbane Grün mittlerweile im Repertoire des Pariser Lifestyles verankert ist: Im stets vollen Restaurant stellen sich die Gäste, die gerade an die dreißig Euro für einen Bio-Brunch mit Getränken hingelegt haben, nach dem Bezahlen artig vor einer Tonne an, in die sie ihre Speisereste kippen. Diese wandern später in den eigenen Hühnerstall des Restaurants. Das Federvieh ist nicht etwa dazu bestimmt, eines Tages im Kochtopf zu landen, erklärt Kellnerin Paula mit Empörung in der Stimme, sondern: „Sie sind Teil unseres ökologischen Abfallkonzepts.“ Zwanzig Hühner und Enten stellen sicher, dass kaum Küchenabfälle entsorgt werden müssen. Die Eier gehen per Abo-System an Stammgäste. Neben den Gleisen gibt es Kräutergärten, Bienenstöcke, Gemüsebeete, Obstbäume – alles in allem ein „Urban-Farming“-Gelände von insgesamt 1000 Quadratmetern, das mit einer sommers geöffneten Bar und einer Pétanque-Bahn auch gärtnerisch Unambitionierte anlockt. Und wieder wenige Meter weiter beginnt bereits der nächste, noch wilde Bahntrassen-Abschnitt, der im Rahmen der kommenden Parisculteurs-Saison zur Stadtfarm umgestaltet wird.

Auch nach dem Abschluss des Parisculteurs-Projekts wird sich die Stadt nicht auf ihren frischen grünen Lorbeeren ausruhen: Die größte Dachfarm der Welt mit 14000 Quadratmetern entsteht gerade im Süden der Stadt; eine Tonne Obst und Gemüse soll künftig pro Tag auf dem Messegebäude Paris Expo Porte de Versailles geerntet werden.

Geplanter Fertigstellungstermin ist im Frühjahr 2020.

Freilich wird sich eine Zwei-Millionen-Stadt wie Paris auch in Zukunft nicht ausschließlich von intra muros angebauten Lebensmitteln ernähren können. Doch die Transformation auf den Tellern, auf den Dächern und in allen verfügbaren Freiräumen der Stadt ist zweifelsohne bereits in vollem Gang. Für Dachgärtner Yohan Hubert steht zumindest für seine Branche fest: „Paris ist heute die inspirierendste Stadt derWelt.“

Informationen

Dachfarmen auf dem BHV und den Galeries Lafayette:

souslesfraises.com.

Anmeldung zur Besichtigung und zu Veranstaltungen:

visite.souslesfraises.com

Kulturzentrum und Restaurant Le Hasard Ludique:

lehasardludique.paris

Stadtfarm & Restaurant La Recyclerie:

larecyclerie.com

Chicoree- und Pilzzucht in der Tiefgarage:

lacaverne.co

Parisculteurs-Programm:

parisculteurs.paris/en

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