Mein erster Artikel in der Süddeutschen – Paris gestaltet gerade seine großen Plätze um. Und wie!
Paris schafft Platz für Flaneure
Die großen Plätze in Paris sollen lebenswerter werden. Dafür greifen die Bürger auch selbst zur Spitzhacke.
Das Fernrohr steht am Rand der Place de la Bastille, genau dort, wo der Boulevard Richard Lenoir in den vielspurigen Kreisverkehr mündet. Man kennt die Geräte von Aussichtspunkten, dieses hier aber sieht eher aus wie eine künstlerische Intervention im öffentlichen Raum, die Passanten zum Nachdenken über den alltäglichen Verkehrswahnsinn anregen soll. Man wirft auch keine Münze ein, sondern bezahlt per Karte. Und wer in das Okular blickt, sieht den Kreisverkehr nicht etwa vergrößert, sondern gar nicht mehr. Er sieht stattdessen: die Place de la Bastille im Jahr 1416 oder 1789.
Timescope heißt das, was Basile Segalen „die erste funktionierende Zeitmaschine“ nennt. Der 30-jährige Unternehmer ist einer der beiden Erfinder des Geräts, das mittlerweile an fünf Standorten in Frankreich aufgestellt wurde: in Paris an der Bastille, an der Seine und am Flughafen im Transitbereich. Zwei weitere stehen in Le Havre. Die Idee, das Stadterlebnis mittels moderner Technologie zu „revolutionieren“, kam ihm und einem Schulfreund bei einer Reise nach Pompeji. „Wir fanden, dass die zweidimensionalen Darstellungen der Stadt vor dem Vulkanausbruch nicht mehr in unser Jahrhundert passten.“ Nun also: Die Welt in 3-D.
In Paris und Umgebung sind zahlreiche weitere Standorte geplant, auch mit anderen europäischen Städten gibt es Gespräche – darunter Pompeji. Die Pariser Stadtverwaltung will mit der Zeitmaschine allerdings nicht nur in die Vergangenheit reisen. Zehn Geräte werden demnächst dort aufgestellt, wo Bahnhöfe der neuen Metro-Linien geplant sind, die das langsam Gestalt annehmende „Grand Paris“ erschließen werden. So sollen sich die Menschen bereits jetzt mit der nahen Zukunft der Metropole vertraut machen können, die 2024 die Olympischen Spiele austragen wird.
Paris wandelt sich gerade rapide. Die Stadt wächst nicht nur mit den sie umgebenden Gemeinden zusammen, auch „intra muros“, wie Pariser ihr eigentliches Stadtgebiet nennen, verändert sich der öffentliche Raum. Es soll deutlich mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer geschaffen werden. Die Champs-Élysées bekommen Fahrradwege. Mit der Umwidmung der Schnellstraße am rechten Seine-Ufer in eine Fußgängerzone setzte Bürgermeisterin Anne Hidalgo im April einen spektakulären, auch von wütenden Autofahrer-Protesten begleiteten Schritt, dem bereits weitere folgen: Sieben große Pariser Plätze, die derzeit von Verkehr umrauscht sind, werden komplett neu gestaltet. Die Place de la République machte im Jahr 2014 noch unter Hidalgos Vorgänger Bertrand Delanoë den Anfang. 24 Millionen Euro kostete die Umwandlung des vormaligen Verkehrsinfernos in ein städtisches Wohnzimmer. Sommers planschen nun Kleinkinder auf einer begehbaren Wasserfläche, die Eltern behalten sie von der Terrasse eines Cafés aus im Blick. Skater trainieren hier und man kann kostenlose Brettspiele ausleihen.
Als Nächstes ist die südlich des Friedhofs Père Lachaise gelegene Place de la Nation an der Reihe, über die einst Sonnenkönig Ludwig XIV. mit seiner frisch angetrauten Gemahlin Marie-Thérèse d’Autriche in die Stadt einzog. Ein gutes Jahrhundert später stand hier eine Guillotine. Seit Jahrzehnten kennt man den symbolträchtigen, von zwei erhöhten Königsstatuen und einem Denkmal der Republik geschmückten Platz vor allem als stressigen Kreisverkehr, den man möglichst schnell hinter sich bringen will. Nun gibt es hier rund um einen kleinen Park in der Mitte des Kreisverkehrs mehr Platz für die Anwohner. Mit Hilfe von Pollern hat man die vier inneren von acht Fahrspuren dem Verkehr abgetrotzt. Der Prozess, den Anwohner gemeinsam mit Landschaftsplanern gestaltet haben, erinnerte mitunter an revolutionäre Zeiten: Ähnlich wie anno 1789 zogen im Frühjahr 2017 Hunderte Pariserinnen und Pariser mit Spitzhacken bewaffnet auf den Platz. Sie errichteten aber keine Barrikaden, sondern entfernten Asphalt, verlegten Rollrasen, bepflanzten Blumenbeete.
Ein halber Platz, dem Verkehr abgetrotzt
Anführer der Spitzhacken-Bewegung ist Pablo Georgieff, der seinen Arbeitsplatz vorübergehend in einen Container mitten auf dem Platz verlegt hat und nun nachmittags Blumen bewässert oder übrig gebliebene Pflanzen einsetzt, wenn wieder einmal ein Kindergarten den Vormittag beim Gärtnern im Park verbracht hat. „Mit den Leuten zu arbeiten, das hat hier auch eine physische Dimension. Sie reden nicht nur mit, sondern legen auch mit Hand an“, erklärt der Architekt und Landschaftsplaner, der mit seinem Büro Coloco den Bürgerbeteiligungsprozess begleitet.
Für ihn ist dieser bereits jetzt ein Erfolg: „Durch die Mitarbeit der Bürger wird alles billiger. Die Leute äußern realistische Wünsche, niemand will sich ein Denkmal setzen. Außerdem ist Urbanität doch auch genau das: gemeinsam etwas gestalten.“ Mit teils ungeplanten Ergebnissen: Eigentlich sollten die vier abgetrennten Fahrspuren komplett begrünt werden. „Irgendjemandem ist dann aber aufgefallen, dass die innerste Bahn genau vierhundert Meter lang ist. Seither kommen viele zum Trainieren hierher.“ Kinder auf Rollern oder Fahrrädern sorgen dafür, dass die Atmosphäre nicht allzu verbissen sportlich wird. „Wir werden also den Asphalt teilweise belassen, dafür wird der breite Weg im Park zur Liegewiese“, sagt Georgieff.
Natürlich habe es auch Ängste gegeben, viele befürchteten ein riesiges Chaos. „Das Jammern ist eine alte Gewohnheit“, sagt der Landschaftsplaner. „Früher hatten Bürger gar keine andere Möglichkeit, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen, als sich zu beschweren. Jetzt müssen sich manche noch daran gewöhnen, dass sie sich auch anders einbringen können.“ Ein paar Rentner, die auf den Inseln zwischen den ebenfalls verkehrsberuhigten Nebenfahrbahnen ihre Nachmittage verbringen, zeigen sich denn auch tatsächlich wenig begeistert vom Umbau.
Dass nicht jeder über die Fähigkeit oder den Willen verfügt, sich an der Diskussion zu beteiligen, bremst den Enthusiasmus eines der zuständigen Politiker kaum: François Vauglin ist Bürgermeister des 11. Arrondissements, das sich zwischen den Plätzen République, Bastille und Nation erstreckt. „Gerade war das noch ein achtspuriger Kreisverkehr, und jetzt bringen dort Eltern ihren Kindern das Fahrradfahren bei. Das ist herrlich!“ Er war bereits unter Bürgermeister Delanoë für Bürgerbeteiligung zuständig und erinnert sich an die Anfänge: „Es war für uns Neuland und ein totaler Kulturwandel, so viel Kompetenz abzugeben.“ Vauglin ist stolz darauf, dass künftig 57 Prozent des Platzes von Fußgängern genutzt werden können; er spricht von „wiedereroberter“ Fläche. Und erinnert an den Wahlkampf der Parteikollegin Anne Hidalgo: „Sie stand auf der Place de la Bastille und sagte: ‚Ich sehe zwar unzählige Autos, aber wo ist hier der Platz?'“ Nun könne dieser geschaffen werden.
Bei aller Aufbruchsstimmung sind auch kritische Töne vernehmbar – wie immer, wenn es um die Beschränkung des Autoverkehrs geht. Oliver Körber, ein deutscher Architekt, der seit 1996 in Paris lebt, spaziert mit kritischem Blick über die nun für Kraftfahrzeuge gesperrte Schnellstraße an der Seine. Seiner Meinung nach fehlen ausreichende Alternativen: „Es gibt kein vernünftiges Park & Ride-System. Man hat einfach eine Hauptachse herausgenommen und sagt: Und jetzt schaut, wie ihr zurechtkommt.“ Öffentliche Verkehrsmittel seien jetzt schon überfüllt, die neuen Metrolinien Zukunftsmusik. „Auf Französisch nennt man so etwas: Sie spannen den Pflug vor den Ochsen ein“, so der Architekt. Für ihn war die Schnellstraße die falsche Wahl: „Warum hat man nicht oben verkehrsberuhigt, wo es Cafés, Leute und schöne Architektur gibt? Jetzt sind die verbleibenden Achsen wie der Boulevard Saint Germain völlig überlastet. Dort wohnen aber Menschen, hier unten nicht.“
Bummelt man über die neue Flaniermeile am rechten Seine-Ufer, überwiegt der Eindruck, dass sowohl Anwohner als auch Touristen die zahlreichen Café-Terrassen, Sport- und Spielgeräte durchaus schätzen. Eine der Timescope-Stationen steht nun auf Höhe des Rathauses – wie zum Beweis dafür, dass das Seine-Ufer auch in früheren Jahrhunderten eine Fußgängerzone war.
Davon ist die Place de la Bastille derzeit noch weit entfernt. Bald wird man dort wohl auch mit dem Timescope einen Blick in die Zukunft werfen können, wenn sich klarer zeigt, wie der Platz umgebaut werden soll. Der Vergangenheit entkommt man dort ohnehin nicht: „Die Demokratie zum Leben zu wecken, bedeutet, Plätze und Bürgersteige zu schaffen“, sagte bereits 1789 ein gewisser Emmanuel Joseph Sieyès, einer der Vordenker der Französischen Revolution.