Kunst und Krempel

Ein ausgedehnter Pariser Flohmarkt-Bummel, diesmal fürs Presse-Schaufenster

Paris: Kunst und Krempel

 

„Wo geht’s hier eigentlich zur Rezeption?“ Beim Tischfußballtisch angelangt, mitten in einem hübschen Restaurant mit kurzer Speisekarte und langen Bänken, stellt sich so mancher Neuankömmling diese Frage. Isabelle Stephan versteht die leichte Verwirrung, durch die wohl jeder ihrer Gäste durchmuss. Das Haus, das sie leitet, vereint schließlich alles Mögliche unter einem Dach: ein Biorestaurant mit Terrasse und Freiluftkino, ein Urban-Gardening-Projekt, zwei Pop-up-Stores – nur wie ein Hotel sieht das einstige Industriegebäude auf den ersten Blick nicht aus. Dafür trifft man im MOB-Hotel in der Pariser Vorstadt Saint-Ouen zu viele Einheimische, die einen entspannten Sonntagvormitta
g genießen, durch die Pop-up-Läden im Eingangsbereich bummeln und im Restaurant frühstücken, ehe sie sich auf den Weg auf die Dachterrasse machen, um dort in den Gemeinschaftsgärten Unkraut zu jäten und Pflanzen zu gießen. „Man soll sich hier nicht wie in einem Hotel fühlen“, erklärt Isabelle Stephan, „uns war es von Anfang an wichtig, auch für die Nachbarn da zu sein.“

Abends ist das Lokal, in dem sich neues Design mit ausgewählten Stücken vom nahen Flohmarkt mischt und an dessen langen Tischen man zwanglos miteinander ins Gespräch kommt, gesteckt voll. Manchmal sorgen DJs für die Musik, neulich gab der Funk-Blues-Musiker Keziah Jones ein Überraschungskonzert. Kultur - auch in Form einer ständig wachsenden Bibliothek – ist ein elementarer Bestandteil der „geträumten Republik“, als die Cyril Aouizerate sein neues Projekt vor den Toren von Paris versteht. Weitere Elemente seiner Philosophie: Offenheit, flache Hierarchien, Gastfreundschaft, Nachhaltigkeit. Sein grau melierter Bart und sein Hang zu extravaganten Kopfbedeckungen lassen den aus Toulouse stammenden Hotelgründer mit dem sephardischen Namen wie eine Mischung aus Hipster und Guru aussehen, doch der studierte Philosoph ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Bei seiner „Mama Shelter“-Hotelkette hat er bereits mit Stardesigner Philippe Starck zusammengearbeitet. Unter dem Namen „MOB“ – ein Wort, hinter dem manche die Abkürzung „Maimonide of Brooklyn“ vermuten, eine Anspielung auf den bedeutenden sephardischen Philosophen Maimonides – brachte er zunächst durch ein veganes Schnellrestaurant ein Stück Brooklyner Lebensgefühl mitten in den Pariser Marais. Das Hotel in der ruhigen, durch die Métro eng an Paris angebundenen Vorstadt Saint-Ouen ist nun der nächste Schritt, weitere MOB-Hotels in Lyon, Washington, Pittsburgh und L.A. eröffnen in den nächsten Jahren. Philippe Starck wird für die Innenarchitektur der amerikanischen Hotels zuständig sein, Kristian Gavoille und Valérie Garcia gestalteten den MOB-Prototyp in Saint-Ouen.

Zusatzbett und Karma.

Auch dessen rund um den großzügigen Hof angelegte 92 Zimmer in drei Größen durchbrechen die gewohnte Hotelroutine: Es gibt keine Fernseher, dafür laden Theatervorhänge über den Betten und an Stangen befestigte Silhouetten zum Schattentheater-Spielen ein. Statt „Zutritt für Unbefugte verboten“ steht „Bad Karma“ an Türen, die dem Personal vorbehalten sind. Jedes Zimmer verfügt außerdem über ein aufblasbares Gästebett: „Freunde dürfen bei uns gratis übernachten“, erklärt Isabelle Stephan, die stolz auf erfolgreiche erste Wochen zurückblickt – kein Wunder: In den Eröffnungsmonaten kostet jedes Zimmer, unabhängig von Kategorie und Gästezahl, gleich viel. Mit 99 Euro wird selbst ein Familienurlaub in Paris auf einmal erschwinglich.

Und natürlich gibt es auch in Saint-Ouen genügend zu tun: Hat man die Rezeption - die übrigens aus einem Laptop auf einem rohen Baumstamm inmitten der Shops im Eingangsbereich besteht – einmal hinter sich gelassen, ist man nur fünf Gehminuten entfernt von der nach Eurodisney bedeutendsten Touristenattraktion der ganzen Region: Dem Flohmarkt von Saint-Ouen, der auf eine 150-jährige Geschichte zurückblickt.

Am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Reblaus die Weingärten von Saint-Ouen vernichtet hatte, erhielten die von Präfekt Poubelle aus Paris vertriebenen Lumpensammler das Recht, hier ihre Stände aufzubauen. Damals entstand der Begriff „Flohmarkt“ und ging von Saint-Ouen aus um die Welt. Bald machten Berichte von sagenhaften Funden die Runde, der Markt zog mehr und mehr Sammler und Neugierige an, war stilbildend für Kunstrichtungen wie die„art nègre“ und wurde schließlich zum größten Flohmarkt der Welt. Er setzt sich aus verschiedenen kleineren Märkten zusammen, die alle ihren eigenen Charakter haben.

Vom MOB-Hotel aus gelangt man durch die Rue des

Rosiers zunächst zu den beiden Märkten „Serpette“ und „Paul Bert“. An deren Eingang hat sich Cyril Aouizerates Partner Philippe Starck vor Jahren einen alten Traum erfüllt und ein nicht eben billiges, aber gut besuchtes Flohmarkt-Bistro gestaltet, das „Ma Cocotte“ mit schönen Zementfliesen, Bugholzmöbeln und einer verlockenden Speisekarte.

 

Wer durch den Marché Paul Bert bummelt und die Gegend seltsam vertraut findet, hat wahrscheinlich noch die Bilder aus Woody Allens „Midnight in Paris“ im Kopf, der zu einem großen Teil in diesem Bereich des Flohmarkts gedreht wurde. Die Faszination des Altmeisters für die Poesie des Flohmarkts lässt sich auf Schritt und Tritt nachvollziehen. Eine junge Verkäuferin namens Héloïse weiß die Besonderheiten alter Silberbestecke zu erklären und kennt die weit in die Geschichte zurückreichenden Gründe für noch heute gültige Konventionen, wie etwa die abgerundeten Spitzen von Speisemessern: „Es war früher üblich, sich mit den spitzen Messern bei Tisch die Fingernägel oder auch die Ohren zu putzen. Kardinal Richelieu hasste das und sorgte dafür, dass die Spitzen wegkamen“, erklärt die studierte Juristin und Kunsthistorikerin, die nach einem Praktikum nicht mehr vom Flohmarkt wegwollte: „Hier zu arbeiten ist ein so poetischer Beruf“, meint sie.

Kreative Atmosphäre. 

Kaum ein Verkäufer auf diesem Markt entspricht dem Klischee des verschrobenen alten Fetzentandlers, man trifft hier vor allem kreative junge Leute, die auf dem Flohmarkt ihre Freude an nicht alltäglichen Gegenständen ausleben und weitergeben. Seit jeher zieht der Markt Kunstkenner und Designer an. So zählt etwa John Galliano zu den Stammkunden seiner Stand-Nachbarin, berichtet Oliver, ein deutscher Architekt, der den Job in einem Architekturbüro gegen einen Stand auf dem Marché Vernaison eingetauscht hat. Diesen erreicht man von Paul Bert, wenn man der Rue des Rosiers folgt, vorbei an Django Reinhardts Stammlokal „La chope des puces“, wo sonntags dem Manouche-Jazz gehuldigt wird.

Vernaison ist der älteste der Märkte Saint-Ouens, ein Labyrinth, in dem man sich lustvoll zwischen den alten Marktbuden verlieren kann. Oliver hat schon als Jugendlicher alte Schilder gesammelt, auch sein Logo, „Le doux logis“, was man frei mit „Sweet Home“ übersetzen könnte, hat er einfach von einem längst geschlossenen Heimtextilienladen in seiner Nachbarschaft abgeschraubt. Vor drei Jahren machte er seine Sammelleidenschaft zum Beruf. Der zum „Pucier“ gewordene Architekt legt Wert auf die stimmige Inszenierung seiner Ware, mit den Kollegen geht er manchmal hart ins Gericht: „Schauen Sie sich das an, die Neonlampe ist für so einen Stand doch viel zu groß! Oder der hier, hat einen so schönen Kronleuchter und dann schraubt er Sparlampen rein, das verstehe ich nicht.“ Oliver kennt viele Anekdoten vom Flohmarkt, etwa die abenteuerliche Geschichte der Originalpläne des Kölner Doms, die im Jahr 1816 bei einem Pariser Händler auftauchten, woraufhin der eingestellte Bau wieder aufgenommen wurde. Es sind Geschichten wie diese, die für ihn den Reiz des Marktes ausmachen: Es gibt noch Stecknadeln im Heuhaufen, und auch wenn sich die Händler heute besser auskennen, werden nach wie vor echte Überraschungsfunde gemacht.

Man muss aber gar nicht auf eine Da-Vinci-Originalskizze unter einem Stapel alter Filmplakate hoffen, um hier Stunden beim Stöbern und Schmökern zu verbringen – schließlich will die Gelegenheit genützt sein, die eigene Wohnung mit dem einen oder anderen Altpariser Fundstück auszustatten, vom Porzellan-Lichtschalter bis zum Bistro-Seifenhalter. Komplette Baccarat-Kristallgläsersets von 48 Stück gibt es für den etwas eleganteren Sektempfang zu kaufen, Möbel von der Hobelbank bis zur Wendeltreppe, verschnörkelte Silberbestecke, alte Korkenzieher, Schlüsselanhänger, alte Werbeplakate, Schaufensterpuppen, stapelweise Postkarten …

U-Boot und Bahnhof. 

Auf der anderen Straßenseite, dem Markteingang gegenüber, kann man auf ungewöhnlichen Ledersesseln eines Ladens namens „À fleur de peau“ Probe sitzen. Sie sind kleiner und schmäler als die gewohnten, in Paris sehr beliebten Club-Möbel. Dennoch sitzt man bequem darin, für Kinder sind sie nicht gedacht. „Sind nur Nachbauten“, erklärt der brummig-freundliche Händler. Nachbauten wovon? „Von U-Boot-Möbeln aus den 1950er-Jahren.“ Offiziere hatten selbst in den engen Unterseeboten das Recht auf einen kleinen Salon mit Ledermöbeln, die eben dem spärlichen Platzangebot angepasst wurden. In Paris verkaufen sie sich wahnsinnig gut: Pariser Wohnungen sind oft winzig, die U-Boot-Modelle wie gemacht dafür.

Auf der anderen Seite der Stadtautobahn Périphérique, unter der sich Verkäufer gefälschter Markenartikel tummeln, gilt es, ein weiteres Highlight zu entdecken: Das in einem ehemaligen Bahnhof der stillgelegten „Petite Ceinture“-Bahnlinie untergebrachte Lokal „La Recyclerie“, in dem man nicht nur essen oder Kaffee trinken, sondern auch Bastlerwerkstätten mieten, Hühner füttern und weitere Gemeinschaftsgärten betreuen kann. Es liegt direkt an der Métro-Linie vier – nur für den Fall, dass man den Pariser Norden überhaupt noch verlassen möchte.

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