Wiener Neuland

Unterwegs in Wien für die Süddeutsche Zeitung:

 

 

Ihre Figur ist üppig, ihr Tempo gemütlich. Sie schätzt reichliche Kost, ein barocker Schnörkel ist ihr auf den Leib geschrieben. Eigentlich müsste die Weinbergschnecke Wiens Wappentier sein. „Tatsächlich war Wien einmal die Schneckenmetropole Europas“, sagt Andreas Gugumuck, ein dynamischer Mittvierziger – und Wiens einziger Schneckenzüchter.

Man findet ihn und seine mehr als 200 000 Tiere in Rothneusiedl, einem 1938 eingemeindeten Dorf am Wiener Südrand, der heute zum 10. Gemeindebezirk Favoriten gehört. Hier hält Gugumuck die normale Weinbergschnecke, Helix pomatia, sowie die gefleckte kleinere Verwandte Helix aspersa. Weil Schnecken genügsam sind, was den Auslauf betrifft, reichen Holzverschläge. Dabei gibt es hier Platz, soweit das Auge reicht. Die schmalen, aber langgestreckten Felder ziehen sich bis an den Horizont, wo ein paar einsame Windräder und Hochspannungsmasten stehen. Seit September fährt die U-Bahn vom Zentrum Wiens aus fast bis zur Hoftür der Schneckenfarm. Keine Viertelstunde spaziert man von der neuen U-Bahnstation Neulaa zu Gugumucks Tieren.

Andreas Gugumuck ist in Rothneusiedl aufgewachsen, auf einem Bilderbuch-Bauernhof mit Schweinen, Hühnern, Kaninchen. Er arbeitete als Projektleiter bei IBM, als er eines Tages Gerd Wolfgang Sievers „Schneckenkochbuch“ in die Hände bekam. Zwei Dinge wurden ihm schlagartig klar. Erstens: Die Menschen müssen wieder Schnecken essen. Zweitens: Er würde dafür sorgen. Also hängte Gugumuck die Informatikerkarriere an den Nagel, übernahm den Hof seiner Vorfahren und belebte 2008 einen Beruf wieder, der seit etwa hundert Jahren ausgestorben war. „Dabei wurden früher nirgends so viele Schnecken verspeist wie in Wien“, betont er und zählt Altwiener Schneckenrezepte auf: Schneckensuppe, Schneckengulasch, Schneckenbeuschel. Für letzteres Gericht nimmt man normalerweise Innereien, hier wird das ganze Tier verarbeitet.

„Future farm“ steht heute am Eingang des alten, zur Schnecken-Erlebniswelt gewordenen Gugumuck-Hofes, denn mehr noch als die kulinarische Vergangenheit interessiert den Farmer die Zukunft der Ernährung. Die Weinbergschnecke sei in der Haltung ökologischer und gesünder als jeder andere tierische Eiweißlieferant. Interessierte können in Seminaren das Know-how für die Zucht im eigenen Garten erwerben. Auf der Gugumuckschen Farm gibt es Verkostungen von neuen Produkten wie Schneckenweißwurst. Auch Wissenschaftler gehen regelmäßig ein und aus. Die einen wollen aus dem Schleim der Schecken eine Art biologisches Pflaster für Operationswunden entwickeln, die anderen Anti-Aging-Produkte. Dreimal pro Monat verwandelt sich der Hof zudem in ein Schneckenbistro; es gibt Menüs, die in Kooperation mit Winzern entwickelt werden.

Ist man schon einmal am Wiener Südrand, lohnt es sich, diesen zu Fuß zu erkunden. Vorbei an einem mächtigen, leer stehenden Gutshof aus dem 19. Jahrhundert geht es zum Liesingbach. An ihm entlang führt ein Fuß- und Radweg, der den Wanderer in wenigen Minuten ins ebenfalls 1938 eingemeindete Winzerdorf Oberlaa bringt. Über die Scheunenstraße gelangt man ins nächste Dorf, nach Unterlaa. Den gesamten Weg über reichen die Felder bis an den Horizont; vor allem Suppengrün, Weizen, Dinkel und Roggen werden hier angebaut.

Wiens Landwirte produzieren mehr als doppelt so viel Brotgetreide wie die Bundesländer Tirol, Salzburg und Vorarlberg zusammen. Die Johanneskirche, etwas außerhalb des Unterlaaer Ortskerns, ist ein lohnendes Etappenziel: Sie wurde auf den Resten eines römischen Tempels angelegt, römische Fundamente können besichtigt werden. Kehrt man über die Klederinger Straße nach Oberlaa zurück, sieht man die Schauseite der Höfe an der Scheunenstraße: Manche sind ehemalige Gutshöfe, wie der stattliche Prentlhof, der bis 1832 dem Malteserorden gehörte.

Ein Bahndamm trennt den Oberlaaer Ortskern von der neuen Endstation der Linie U1, deren unmittelbare Umgebung allerdings eine gewisse Tristesse verströmt: Verloren steht ein Kebab- und Schnitzelstand auf einer weiten asphaltierten Fläche vor dem modernen Komplex der Therme Wien. Die übrigen Gebäude rundherum haben ihre besten Jahre schon lange hinter sich. Immerhin hüllt die Backstube der Kurkonditorei Oberlaa die Gegend an Vormittagen in eine Schoko-Duftwolke.

Zu Fuß ins Zentrum Favoritens

Bald wird einem dort auch Baustellenstaub in die Nase steigen: „Die waren mit der U-Bahn einfach schneller als wir“, erklärt Christoph Hrncir. Er ist im WienerRathaus für die Entwicklung des neuen Stadtteils zuständig, der vom nächsten Jahr an um die neuen Endhaltestelle entstehen soll. Auch Sozialwohnungen sollen hier gebaut werden – die Wiener Stadtregierung möchte angesichts der steigenden Mieten in der rasch wachsenden Stadt an die Wohnbaupolitik des Roten Wien der Zwischenkriegszeit anschließen.

Wer zwei, drei Stunden Zeit hat, steigt in Oberlaa besser nicht in die U-Bahn, sondern wandert zu Fuß ins Zentrum Favoritens. Hinter dem Kurpark Oberlaa, auf dessen Gelände in den 1920er-Jahren „Sodom und Gomorrha“ gedreht wurde, führt der Stadtwanderweg 7 über den Laaer Berg. Die Winzerdynastie Wieselthaler baut dort auf dem kleinsten Wiener Weinbaugebiet ihre prämierten Weißweine an: Wiener Gemischter Satz, natürlich auch reinsortiger Veltliner, Neuburger, Traminer und Muskateller. Auch Rotweine gedeihen in den Lagen, die vom warmen pannonischen Klima beeinflusst werden. Franz Wieselthaler senior bricht eine Lanze für den oft unterschätzten Blauen Portugieser. „Der muss bis zum nächsten August ausgetrunken sein“, dann sei er ein hervorragender, leichter Rotwein für viele Anlässe.

Die alte kaiserlich-königliche Funkstation auf dem Gipfel des Laaer Berges schickte ihre Signale einst bis Lemberg aus, heute schweift der Blick an schönen Tagen immerhin bis Bratislava. Der Stadtwanderweg führt weiter über die Löwygrube, einen weitläufigen Park, auf dessen Gelände einst böhmische Arbeiter Ziegel für das boomende Wien der Gründerzeit abbauten, zum Böhmischen Prater, gegründet von Landsleuten der Ziegelstecher. Ein Ringelspiel aus dem 19. Jahrhundert, die „Raupenbahn“ aus den 1920ern und ein Streichelzoo zählen zu den Attraktionen des kleinen Rummelplatzes.

Wenige Minuten sind es bis zur 1891 gegründeten Ankerbrotfabrik. Der würzige Duft, der einen dort beim Eingang empfängt, kommt von nebenan: Die Produktion ist in einen moderneren Teil der Anlage umgezogen. Das Stammhaus mit dem markanten Schriftzug wurde zum Kultur-Areal und beherbergt heute Lofts, Ateliers, Büros und Galerien. In der empfehlenswerten „Kantine in der Brotfabrik“ kochen Profis gemeinsam mit Flüchtlingen und Arbeitslosen.

In der Essigmanufaktur gibt es zum Frühstück Eier mit Himbeergeschmack

Über die Puchsbaumgasse führt der Weg in Richtung Reumannplatz. Ein letzter Abstecher lohnt sich kurz vor dem Ziel: Hinter der unscheinbaren Fassade eines Gründerzeithauses in der Waldgasse verbirgt sich die kleine, aber spektakuläre Essigmanufaktur Erwin Gegenbauers. Dessen Großvater verkaufte als klassischer „Sauerkräutler“ eingelegtes Gemüse auf dem Naschmarkt, der Vater machte aus dem Betrieb eine große Konservenfabrik. Der aktuelle Firmenchef stellte den Betrieb auf klein, aber erlesen um und beliefert nun weltweit Spitzengastronomen. Aus allen denkbaren Früchten wird hier Essig hergestellt. Auch eine Kaffeerösterei und eine Brauerei gehören zum Betrieb. „Ich kann halt nichts wegschmeißen“ – darin sieht Erwin Gegenbauer einen der Gründe für die ständigen Innovationen.

Der Presskuchen, der aus der für den Himbeeressig benötigten Saftproduktion entstand, brachte ihn auf die Idee, eine Ölmühle anzuschaffen. Zwei Liter edles Himbeerkernöl kann er nun an einem Tag pressen, doch auch da bleiben Reste: „Die verfüttern wir an die Hühner.“ Auf dem Dach der alten Essigfabrik steht mittlerweile ein Hühnerstall. „Und das Beste: Die Eier haben tatsächlich ein feines Himbeeraroma“, schwärmt Gegenbauer. Wer sich davon überzeugen möchte, kann gleich einziehen: Die Gegenbauers vermieten Gästezimmer in puristischem Industrie-Design mit Zugang zur kleinen Farm auf dem Dach, wo in alten Perlzwiebelfässern der väterlichen Konservenfabrik Obst und Gemüse heranwachsen.

Ein Sprung ins Wasser krönt so manche Wanderung, und auch in Favoriten muss man auf die Erfrischung am Ende der Tour nicht verzichten. Man findet sie am nahen Reumannplatz: Dort steht das 1926 eröffnete Amalienbad, eines der schönsten Relikte des Roten Wien. Damals wurden überall in der Stadt Dusch- und Hallenbäder eröffnet, um die allgemeine Hygiene zu fördern und die Möglichkeiten zur körperlichen Ertüchtigung zu verbessern. Das stattliche Gebäude verfügt über eine zwar im Krieg beschädigte, aber immer noch großartige Art-déco-Schwimmhalle. Mit der U1 geht es dann zurück in die Innenstadt – oder zum Heurigen nach Oberlaa.

ReiseinformationenAnreise: Mit der U1 nach Neulaa (zum Schneckenzüchter) oder Oberlaa (direkt zu Kurpark und -konditorei), ab Hauptbahnhof in zehn Minuten. Das Ticket kostet 2,20 Euro.

Der Wiener Südrand: Schneckenzucht Gugumuck, Rosiwalgasse 44: www.gugumuck.at; Dorfwirt Oberlaa in der Liesingbachstraße 75, www.dorf-wirt.at; Unterlaaer Hof: www.zumgenussspecht.at; Prentlhof: www.prentlhof.at; Heuriger Wieselthaler: www.weingut-wieselthaler.at; Kurkonditorei Oberlaa: www.oberlaa-wien.at; Therme Wien: www.thermewien.at; Böhmischer Prater: www.böhmischer-prater.at; Kantine in der Brotfabrik: www.magdas-kantine.at; Gegenbauer Essigbrauerei: www.gegenbauer.at;Amalienbad: www.wien.gv.at/freizeit/baeder

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