Mein Beitrag über den aktuellen Stand der vielen unter Anne Hidalgo durchgeführten und gerade laufenden Transfomationen des öffentlichen Raums in Paris, erschienen in der Süddeutschen am 15. September 2022.
Die Verwandlung von Paris
Paris macht sich für die Olympischen Spiele von 2024 wieder einmal hübscher als ohnehin schon. Doch hat Bürgermeisterin Anne Hidalgo ihre Stadt nicht längst völlig umgekrempelt?
« Paris sera toujours Paris, la plus belle ville du monde », sang Maurice Chevalier im Jahr 1939 mit trotzigem Optimismus. Den braucht auch der heutige Städte-Tourist. Was muss eine Stadt bieten, die auch in Zeiten der Hitzewellen als „schönste Stadt der Welt“ geliebt werden will? Die Sehnsucht nach Paris ist jedenfalls ungebrochen. Auch wenn es noch zu früh für eine Gesamtbilanz ist, sieht es so aus, als könnte die meistbesuchte Stadt der Welt wieder an Gästezahlen aus den Zeiten vor Corona anschließen.
Wer dieser Tage durchs historische Zentrum der Stadt spaziert, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass wenigstens hier noch alles so ist wie immer. In der Rue du Temple etwa, die beim Rathaus von der Rue de Rivoli abbiegt. Dass es sich um eine der ältesten Straßen der Stadt handelt, meint man ihr angesichts ihres gepflegten Erscheinungsbildes auch anzusehen: Typische Pariser Straßenbänke mit ihren dunkelgrün gestrichenen Sitzflächen stehen herum, ein gusseiserner Brunnen spendet Trinkwasser oder Sprühnebel, alte und frisch gepflanzte Bäume wohltuenden Schatten. Den Metro-Eingang ziert ein Art-Déco-Kandelaber. Eine geradezu archetypisch pariserische Straße eben – und dabei ist sie doch völlig neu. Das frisch verlegte Pflaster und die großzügigen Beete sind der einzige Hinweis auf die Neugestaltung, die erst im Juni dieses Jahres abgeschlossen wurde. Bänke gab es hier zuvor keine, der Art-Déco-Schmuck des Metro-Eingangs wurde genauso wie der Brunnen neu gegossen. 1,5 Millionen Euro ließ sich die Stadt das altvertraute, funkelnagelneue Gesicht der Straße kosten, die nun zumindest in diesem Abschnitt zur Fußgängerzone wurde.
Ach ja, keine Autos! Das ist neben mehr Wasser und Schatten wohl der markanteste Unterschied zu früher. Dabei wirkt das Straßenbild so stimmig, dass vielen Passanten wohl gar nicht auffällt, welche Revolution hier stattgefunden hat. Oder besser: Welche Revolutionen, denn zum seit Jahren bekannten Willen der Pariser Stadtregierung, die Stadt zu begrünen und den Kfz-Verkehr zu reduzieren, kommt noch die Revolte einiger in den sozialen Medien gut organisierter Anwohner: Vom Baustellen-Look, der die ersten Projekte der Bürgermeisterin Anne Hidalgo kennzeichnete, mit Bänken aus groben Holzbalken oder Betonwürfeln, hat man genug. Begrünung, Entsiegelung und Verkehrsberuhigung – wenn schon, dann bitte mit Stil! Um die erhitzten Gemüter zu beruhigen, hat die Stadt en „Manifest für die urbane Schönheit“ verabschiedet, das die laufenden Maßnahmen für ästhetisch anspruchsvolle Einheimische auch optisch akzeptabel machen soll.
Was man angesichts der mitunter etwas skurrilen Debatte nicht übersehen sollte: Die eigentliche Sensation ist nicht die bei all ihrer puppenstubenhaften Schönheit doch recht kurze verkehrsberuhigte Zone der Rue du Temple, sondern die Rue de Rivoli gleich ums Eck, die sich quer durchs Zentrum der Stadt zieht. Die mehrspurige Verkehrsarterie ist nach wie vor äußerst belebt, nur hört man das nicht mehr so deutlich wie früher: Außer Bussen und Taxis dürfen sie nur noch Radfahrer benützen, das Hupkonzert und der Motorenlärm von früher sind bloß eine schlechte Erinnerung.
Etwa für Guido und Gerte aus Antwerpen, die mit prall gefüllten Radtaschen zum Abschluss eines dreitägigen Aufenthalts in Paris noch eine letzte Runde durch die Stadt drehen, ehe es zurück nach Hause geht. Vor sieben Jahren waren sie zum letzten Mal hier, auch damals mit den Fahrrädern. Wie das war? „Schrecklich“, antworten sie wie aus einem Mund. Schlechte Infrastruktur und rücksichtsloser Kfz-Verkehr sorgten für Stress und gefährliche Situationen. Die zahlreichen Berichte über die Umgestaltung der französischen Hauptstadt, die als Fahrradmetropole mit Amsterdam oder Kopenhagen gleichziehen wollte, machten die erfahrenen Radreisenden dann doch wieder neugierig. Im August 2022 besuchten sie Paris aufs Neue – und sind begeistert. Nach wie vor gebe es zwar Lücken im Radwegenetz, doch der Vergleich mit 2015 macht sie sicher: „Paris hat einen riesigen Sprung gemacht“. Die Verwandlung der Stadt in so kurzer Zeit sei unglaublich, die Infrastruktur insgesamt richtig gut, am schönsten die Fahrt zum Louvre.
Nicht nur in der am weltberühmten Museum vorbeiführenden Rue de Rivoli, sondern auch auf der anderen, der Seine zugewandten Seite des Louvre ist es deutlich ruhiger geworden: Unten am Fluss, wo man einst je nach Tageszeit auf einer Schnellstraße mitten durch das Herz der Stadt brettern durfte oder im Stau stehen musste, rollen heute neben Scootern und Radlern höchstens noch Pétanque-Kugeln über den Asphalt. Die Verkehrsberuhigung der Seine-Ufer, die Hidalgo gegen erbitterte Widerstände durchgeboxt hatte, trug der spanischstämmigen Bürgermeisterin den Vergleich mit Baron Haussmann ein, der Frankreichs Hauptstadt in der Belle Epoque ihr heute noch vertrautes Gesicht verlieh.
Nicht minder ambitioniert klangen Hidalgos Projekte für ihre zweite Amtszeit, für die sie vor gut zwei Jahren wiedergewählt wurde: 70.000 Kfz-Stellplätze sollten dem weiteren Ausbau des Radweg-Netzes weichen, Stadtwälder an zentralen Orten gepflanzt, die Ringautobahn Périphérique in einen Grüngürtel verwandelt werden. Rund um Eiffelturm und Triumphbogen sollten blühende Landschaften bzw. „außergewöhnliche Gärten“ entstehen. Manche der Ankündigungen haben sich als nicht durchführbar erwiesen, wie etwa die Stadtwälder, vieles ist noch nicht umgesetzt. Grund dafür ist das Jahr 2024: Da finden in Paris Olympische Sommerspiele statt. So gibt es in der aktuellen Pariser Zeitrechnung ein Vor- und ein Nach-2024: Bis zu den Spielen muss alles auf Hochglanz poliert sein, von Notre-Dame bis zum Eiffelturm. Wo es hingegen mehr braucht als eine bloß oberflächliche Sanierung, da wird erst nach Olympia so richtig hingelangt.
Etwa auf den Champs-Elysées. Auf der angeblich schönsten Avenue der Welt stolpert man heute über schäbig gewordenes Pflaster an den verklebten Auslagen leerstehender Luxus-Flagshipstores vorbei. Besonders ins Auge sticht am unteren Ende der Prachtstraße die Place de la Concorde, der größte Platz der Hauptstadt: Geköpfte Straßenlaternen, Betonklötze zur Verkehrslenkung und notdürftig geflickter Straßenbelag prägen das Bild. Doch schon stehen die Bauzäune: Bis 2024 soll die royale Achse wenigstens wieder schön anzusehen sein. So richtig umgebaut wird danach, mit doppelt so vielen Baumreihen, halb so vielen Fahrspuren, sowie Gemeinschaftsgärten anstelle des wildesten Kreisverkehrs der Hauptstadt rund um den Triumphbogen. Man darf gespannt sein – auf das Jahr 2030, wenn das Projekt abgeschlossen sein soll.
Auch vom angekündigten „Garten“ rund um den Eiffelturm ist derzeit noch wenig zu sehen. Wie es mit der Baustelle hinter den zahlreichen Zäunen weitergehen soll, ist ungewiss: Im Mai hat der Pariser Polizeipräfekt Einspruch gegen die von Hidalgo geplante Verkehrsberuhigung im großen Stil erhoben, seither ist es still um das Projekt. Die meisten Touristen quittieren das Provisorium mit einem Achselzucken. An Baugerüste rund um Sehenswürdigkeiten hat man sich genauso gewöhnt wie an die transparenten Sicherheitsbarrieren, die es seit ein paar Jahren unmöglich machen, wie früher „einfach so“ unter dem Eiffelturm hindurch zu spazieren.
Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der man heute seinen Eiffelturm-Slot reserviert, packen die Mitglieder einer kleinen Reisegruppe vor der Julisäule mitten auf der Place de la Bastille die mitgebrachten Sandwiches aus. Ob sie wissen, dass hier bis vor wenigen Monaten noch ein gefürchteter Kreisverkehr jeden Gedanken an Gemütlichkeit geradezu absurd scheinen ließ? Nein, sie sind das erste Mal in Paris und finden es toll.
Pariser Autofahrer schimpfen freilich nach wie vor über die aus ihrer Sicht unlogisch gewordene Verkehrsorganisation rund um die großen Plätze, die in den letzten Jahren sukzessive dem Autoverkehr weggenommen wurden. Des Automobilisten Leid, des Flaneurs Freud‘: Eine neue Treppenanlage verbindet den Platz nun direkt mit dem Jachthafen Port de l’Arsenal und macht das dem Autoverkehr abgetrotzte Areal auch bei Einheimischen zur sichtlich beliebten Ruheinsel. Wer lieber oben auf Straßenniveau bleibt, kann den frisch begrünten Boulevard Bourdon entlangspazieren, der von der Bastille in Richtung Seine führt: Gut 880.000 Euro ließ sich die Pariser Stadtverwaltung die Neugestaltung kosten. Zu den vorhandenen Bäumen kam eine durchlässigere Oberfläche, die sich im Sommer nicht so stark aufheizt, sowie großzügige Pflanzenbeete – und auch hier laden „klassische“ Pariser Bänke zur Rast ein.
Der Boulevard zwischen dem quirligen Bastille- und dem gediegenen Marais-Viertel ist ein gutes Beispiel dafür, in welche Richtung sich Paris derzeit verändert. Entsiegelung und „Vegetalisierung“ lauten die Schlagworte, unter denen allerorts die Stadterneuerung vorangetrieben wird, ob an berühmten Plätzen und Straßen oder abseits der must-sees. Etwa ein paar Schritte von der Place Pigalle entfernt, wo die Rue des Martyrs in ein von den Massen unentdecktes Stadtviertel führt. Dort trinkt Fremdenführerin Solène Moy, die ein paar Jahre in Deutschland studiert hat, nach einer ihrer deutschsprachigen Führungen über den Montmartre gern einen griechischen Kaffee. Die anstelle der Parkspuren angelegten Beete vor ihrem Lieblingslokal sind üppig bewachsen, auf den Straßen mehr Fahrräder als Autos unterwegs. Ihre Gäste sprechen sie in letzter Zeit tatsächlich vermehrt auf die Veränderung des Pariser Straßenbildes an, erzählt die Stadtführerin, vielen fallen begrünte Straßenzüge und Gebäude auf. Außerdem trauen sich immer mehr, ein Leihrad zu nehmen, seit die Infrastruktur sichtbar verbessert wurde – vor kurzem noch undenkbar. Die vielen Baustellen sind freilich ein Störfaktor, aber eben auch Vorboten der Olympischen Spiele.
Ob bis dahin all die ehrgeizigen Vorhaben abgeschlossen sein werden, bleibt abzuwarten. Sicher ist jetzt schon, dass es auch abseits von Eiffelturm, Notre-Dame und Champs-Elysées zahlreiche begrünte, verkehrsberuhigte Straßen und Radwegkilometer mehr geben wird. Wer die schönste Stadt der Welt bleiben will, muss eben die Zeichen der Zeit erkennen.
Alle wichtigen Informationen zu Reisen nach Frankreich unter www.france.fr/de
Deutschsprachige Stadtführungen:
HelpTourists. 83, rue de Dunkerque, 75009 Paris. www.help-tourists-in-paris.com
Radverleih und geführte Touren:
Paris Bike Tour : 13 Rue Brantôme, 75003 Paris. www.parisbiketour.net
Fat Tire Tours : 24 Rue Edgar Faure, 75015 Paris. www.fattiretours.com/paris