Das dunkle Herz von Paris

zum Artikel in der Wiener Zeitung

Im Stadtteil Barbès zeigt die französische Hauptstadt ihre multikulturellen Seiten

Barbès bei Nacht: eine Freihandelszone. Viermal fragt mich jemand, ob ich Feuer habe, viermal verneine ich höflich. Erst dann fällt der Groschen. „Verkauft ihr alle Gras?“ „Nein, auch wirkliche Drogen, oder Mädchen, was du willst.“ Der Kunde ist König, und was kann ein einsamer Fußgänger im nächtlichen Barbès anderes sein als ein potenzieller Kunde? Das Lokal, neben dem sich die Szene abspielt, heißt „Au palais de Schengen“.

Barbès bei Tag: der einzige Ort auf der Welt, von dem der Blick auf das Sacré-Cœur nicht kitschig ist, sondern tröstlich. Immer wieder tauchen die Kuppeln überraschend im Sichtfeld auf, als perfektes Hintergrundbild für exotische Straßenszenen. Der Blick von der Kreuzung Rue de Chartres/Rue de la Charbonnière macht süchtig.

Gleich neben dem Touristenmagneten auf dem Montmartre schlägt das dunkle Herz von Paris. Das Viertel gilt als finsterer arabischer Souk, als afrikanisches Drogen- und Hurenquartier, als letztes Pariser Ghetto – oder auch als Dorf in der Stadt, in dem die Leute auf der Straße einander noch grüßen. Barbès wird es nach der Metrostation am Boulevard de la Chapelle genannt, eigentlich heißt es Goutte d’Or, goldener Tropfen, zur Erinnerung an die Weingärten früherer Jahrhunderte. Diese wurden 1840 in Bauland umgewidmet, der langsam entstehende Stadtteil sollte zugewanderten Arbeitern Unterkunft bieten: Franzosen aus der Provinz, Süd- und Osteuropäer siedelten sich hier zuerst an, ab der Mitte des 20. Jahrhunderts dann Maghrebiner, Schwarzafrikaner und Asiaten. Mehr noch als andere Pariser Stadtteile spiegelt Barbès die Geschichte der Immigration und der Kolonisation wider: 40 Nationalitäten bzw. Ethnien sind unter seinen etwa 22 000 Bewohnern vertreten.

Barbès, jetzt oder nie?

Barbès ist ein Mythos, eine Projektionsfläche für Traumwelten und Ängste aller Art, schrieb Florence Ehret in Salut Barbès in den achtziger Jahren[i], als die „sanfte“ Erneuerung des heruntergekommenen Viertels geplant wurde und man allerorts das Verschwinden der alten Atmosphäre befürchtete. Auch dieses Verschwinden ist inzwischen zum Mythos geworden: Noch heute preisen Internetseiten einen Spaziergang in der Goutte d’Or als Geheimtipp an, nach dem Motto „Schnell noch hin, bevor es zu spät ist. Die Bagger sind schon dort.“[ii] Nun, das sind sie schon lang, und eine Weile werden sie auch noch bleiben. Das Viertel, in dem sich einst Emile Zolas Proletarier ins Verderben soffen, ist dennoch nicht verschwunden.

Was ist Barbès abseits des Mythos? Ein idyllisches Dorf in der Stadt oder ein multikultureller Menschenzoo, in dem – nur noch kurze Zeit! – die letzten Reste von Elend im Paris „intra muros“ besichtigt werden können? Beides nicht, und von beidem ein bisschen etwas. Die Faszination dieses besonderen Winkels von Paris lässt sich besser durch die unvermeidlichen Missverständnisse und Aha-Erlebnisse erklären, die er für den Spaziergänger bereithält.

Mit der Métro in den Maghreb

Ein Samstagnachmittag am Boulevard de la Chapelle, im Herbst 2005. Unter den Gleisen der Metro, die in diesem Abschnitt zur Hochschaubahn wird, ist gerade der Markt zu Ende gegangen. Einige Randfiguren sind noch da: Eine alte Frau, neben ihr auf dem Boden ein Plastiksack mit einem Stapel kalt gewordener Crêpes, die niemand mehr will, daneben ein zweiter Plastiksack mit geschnittenem Schinken. Ein paar Schritte weiter bietet jemand aufdringlich geschmuggelte Zigaretten zum Verkauf an. Die CRS, Mitglieder der Polizei-Spezialeinheit, lehnen gleich daneben lässig an einem Metallzaun; offenbar gibt es Wichtigeres zu tun. Mit Ende des Marktes wird es hier nicht leerer, sondern immer voller. Eine Menschenmenge, als fände eine Demo statt, verstopft Geh- und Radweg sowie einen Teil der Straße. Die Läden mit nordafrikanischer Patisserie und die Schnellimbisse werden gestürmt, ich stecke mitten in der Menge und verstehe überhaupt nichts, bis ich die richtige Frage stelle: Es ist gerade Ramadan, das Fastenbrechen wird gefeiert.

Der Stadtteil, der in den 60er Jahren als Pariser Hochburg der algerischen Unabhängigkeitsbewegung galt, hat sich eindeutig seinen „maghrebinischen Lokalcharakter“ bewahrt. Heute manifestiert sich dieser weniger kämpferisch: nordafrikanische Patisserien duften nach Orangenblüten und Pistazien, die vielen kleinen Lebensmittelgeschäfte mit ihren Gewürzen und Tajine-Geschirren sehen hier nicht anders aus als in Marokko oder Algerien. Maghrebinisch ist auch der Arbeiterstrich in der Rue de la Charbonnière, wo dutzende Männer Tag für Tag auf Gelegenheitsjobs warten. Elend und Traum sind nur wenige Schritte voneinander entfernt: Vor einem schmalen Laden in der Rue Jessant, der nur drei Waren führt – frische Minze, frische Petersilie und frischen Koriander – hüllt den Passanten unversehends eine Duftwolke wie aus tausendundeiner Nacht ein.

Etwas strenger riecht es ein paar Blöcke weiter. In der Rue Myrha, gleich neben der „Nazarenerkirche“, gibt es lebende Hühner zu kaufen, die in kleinen Käfigen im Verkaufsraum gestapelt sind. Die Straße im Zentrum der Goutte d’Or stellt die Quintessenz des Viertels dar: Afrikanische Friseure und Call-Shops liegen neben maghrebinischen Epicerien und koscheren Restaurants, in einem alten Kino ist eine methodistische Kirche untergebracht, die Moschee ist nicht weit. Als Hauptstraße der Goutte d’Or kann die Rue Myrha aber auch gelten, was die Probleme angeht, mit denen der ganze Stadtteil zu kämpfen hat. Drogen bekommt man hier zu jeder Tages- und Nachtzeit, Süchtige streiten oft lautstark auf der Straße, zwischen den geparkten Autos warten rund um die Uhr Prostituierte auf Kunden.

Afrikanisches, made in Thailand

Hier beginnt das afrikanischste Eck von Paris. „Le goût de l’Afrique“, „der Geschmack Afrikas“, steht über der Eingangstür eines der vielen Fischgeschäfte in der Rue de Suez. Von den Wänden glotzen Hammerhai- und Schwertfischköpfe, in den Kühltruhen lagern meterlange tiefgefrorene Fische, die seltsame Namen tragen, wie Thiouf, Tilapia oder Capitaine. Aus den Geschäften dringt der Lärm von Kreissägen, doch man irrt wieder einmal, glaubt man, dass sie umgebaut werden: Hinter den Verkaufsräumen können sich die Kunden ihren im Ganzen gekauften gefrorenen Fisch mit großen Stichsägen in Scheiben schneiden lassen. Es lohnt sich, die Ware vor dem Zersägt-Werden noch einmal aus der Nähe anzuschauen – „Le goût de l’Afrique“ steht zwar über dem Ladeneingang, der Fisch jedoch kommt aus Thailand.

Die Rue de Suez führt direkt zur Rue des Poissonniers, der Fischhändlerstraße, über die bis zum Bau der Eisenbahn der Fang aus der Nordsee auf Maultierrücken in die Hauptstadt transportiert wurde. Von Fischen ist hier und in der benachbarten Rue Dejean nicht mehr viel zu sehen, muslimische Metzger und ihr „halal“ geschlachtetes Fleisch prägen das Straßenbild. Vor afrikanisch aussehenden, von Asiaten betriebenen Gemischtwarenhandlungen sind Yams- und Ingwerwurzeln, bunte Chile-Sträuße, Kochbananen und Süßkartoffeln aufgehäuft, in den Regalen dahinter Haarpflegeprodukte, Konservendosen mit asiatischen Aufschriften und „Fade Creams“ zum Bleichen der Haut. Da und dort finden sich auch Wurzeln und Pulver „for men“. Außen auf den Packungen sind geschwollene Bizepse zu sehen, gemeint ist etwas anderes. Auch auf den Gehsteigen wird ge- und verkauft, man bekommt hier sogar kleine Säckchen mit essbaren Maden.

Biegt man hinter dem bunten Markt in der Rue Dejean um die Ecke, kann einen ein mulmiges Gefühl beschleichen: die Leute bilden ein Spalier, blicken die Passanten erwartungsvoll an. Was wie ein Spießrutenlauf beginnt, endet mit einem gelösten Rätsel mehr: in dieser Straße werden gefälschte oder gestohlene Markenartikel verscherbelt, von links und von rechts versperren D&G-Gürtelschnallen, Ray Ban-Brillenfassungen und Rolex-Armbanduhren den Weg. „Pas cher, mon ami!“

Typisch für das Viertel sind auch Geschäfte, deren Auslagen bis obenhin mit Stoffballen angefüllt sind. Im Ladeninneren arbeiten ältere Männer an Nähmaschinen. Hier kaufen traditionell gekleidete Frauen „Wax“, gemusterte Stoffe, die zwar afrikanisch aussehen, größtenteils aber in Ostasien erzeugt werden sollen. Auch junge Europäer sorgen für Konkurrenz auf dem Textil-Sektor: In der Rue de Garde haben sich junge Designer angesiedelt.

Solidarität, die lebt

Und selbst bei den schicken Läden kann der erste Eindruck täuschen. „Art Mode“ etwa unterscheidet sich äußerlich nicht von den anderen Boutiquen in der Nachbarschaft. Nur die Chefin ist älter: Madame Caron, die früher ihre eigene Textilfirma mit 150 Angestellten führte, ist jetzt 80 und im Ruhestand – und hat einen Verein gegründet, der „Menschen in Schwierigkeiten“ eine neue Chance bietet. Langzeitarbeitslose, Menschen, die nach längeren Krankheiten am Arbeitsmarkt nicht mehr Fuß fassen können, oder Jugendliche ohne Aussicht auf einen Ausbildungsplatz sind unter ihren sechs Lehrlingen. Das Design für ihre T-Shirts, Kleider und Taschen machen junge Künstler, die froh um Aufträge sind. Sie selbst arbeitet ehrenamtlich. Subventionen bekommt der Verein nicht: dafür bräuchte er zehn Lehrlinge. Madame Caron kämpft dennoch energisch für ihr Projekt und liegt im Dauerclinch mit dem Bezirksvorsteher, weil er ihr ein größeres Geschäftslokal bisher verweigert.

Beispiele wie dieses findet man in der Goutte d’Or häufiger als anderswo. Zahlreiche gemeinnützige Vereine bieten Hausaufgabenbetreuung, Französisch- und Alphabetisierungskurse an, aber auch Rechtsberatung und Schreibdienste, wenn jemand beim Ausfüllen von Formularen Schwierigkeiten hat. Den öffentlichen Schreiber mit Turban und Tintenfässern, den Florence Ehret in Salut Barbès verewigt hat, gibt es zwar nicht mehr, seine Rolle haben dafür andere übernommen – was in dem Viertel mit seinen vielen Arbeitslosen und Migranten nach wie vor bitter notwendig ist.

Die öffentlichen Schreiber haben sich in Barbès genauso modernisiert, ohne zu verschwinden, wie die Bausubstanz. Alte Häuser werden, wo es möglich ist, nicht abgerissen, sondern saniert. Diese Vorgangsweise dauert, und noch immer entsprechen 20 Prozent der Wohnungen nicht modernen Komfort- und Hygienestandards, informiert einer der hier ansässigen Vereine[iii]. Monat für Monat deckt die Stadtteilzeitung „Le 18e du mois“ Fälle auf, in denen Familien in winzige Wohnungen gepfercht werden, oft ohne WC und Warmwasser oder in einsturzgefährdeten Gebäuden. Seit im Sommer 2005 in Pariser Hotels, die als Notquartiere dienten, zahlreiche Menschen durch Brände umgekommen sind, herrscht unter den Bewohnern der Substandardwohnungen die Angst, delogiert zu werden, bevor sie etwas Neues gefunden haben. Dabei wird rundherum fieberhaft gearbeitet: 451 Sozialwohnungen sollen in den nächsten beiden Jahren entstehen. 2004 sind 88 Wohnungen und fünf Künstler-Ateliers fertiggestellt worden. Auch ein Studentenheim wurde gebaut – in der Rue Myrha.

Diese Straße mit ihren Dealern, Süchtigen, Prostituierten und neuerdings auch Studenten ist wohl die schillerndste Blüte eines Konzepts, das als „Convivialité urbaine“ überall in Barbès angepriesen wird. „Convivialité“ kann man mit Gastlichkeit oder Gemütlichkeit übersetzen, hier ist wohl ein halbwegs funktionierendes Zusammenleben gemeint. Eine Worthülse? Die vielen Stadtteilinitiativen belegen das Gegenteil. Sogar über eine eigene Website verfügt das Grätzel: Unter www.lagouttedor.net tauschen Eltern Kindergartentipps aus, Anrainer diskutieren über den Stand der Renovierungsarbeiten, junge Bands suchen nach neuen Musikern, andere suchen nur eine Wohnung oder beschweren sich über den Lärm in ihrer Straße. Wie so oft in Barbès ist auch hier von Idylle keine Spur, von Engagement dafür sehr viel zu bemerken. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass das Arrondissement als Talenteschmiede für Jungpolitiker der französischen Sozialdemokraten gilt.

Leider nicht nur für diese. Gerade, als ich den Ausdruck „convivialité urbaine“ von einem Plakat an einem Baustellenzaun abschreibe, traben drei CRS-Polizisten im blauen Overall an mir vorbei, das Käppi in der einen Hand, die andere am Schlagstock. Ob sie ihr Ziel finden, ist ungewiss, da die Jugendlichen auf der Straße sie in möglichst verschiedene Richtungen gleichzeitig schicken. Wahrscheinlich werden sie bald, das blaue Schiffchen wieder auf dem Kopf, die Hand noch immer am Schlagstock, lässig zurück zu ihren Mannschaftswägen schlendern, die jeden Samstag ausgerechnet die Kreuzung Rue de Chartres/ Rue de la Charbonnière zuparken. Genau die Stelle, an der der Blick auf das Sacré Cœur am späten Nachmittag am schönsten ist.

(Veröffentlicht in: Wiener Zeitung, 2006).

[i] „un écran propre à recevoir tous les fantasmes, toutes les peurs“

[ii] „Les bulldozers ont déjà attaqué, et personne ne sait ou ils s’arrêteront! Alors dépêchez vous de venir découvrir l’un des derniers villages colorés de la capitale avant qu’il ne soit trop tard.“ (www.parissi.com)

[iii] „L’Observatoire de la Vie Locale du quartier de la Goutte d’Or – Association Salle Saint Bruno“

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