Richtige Ausstellung, falscher Ort

Hier mein NZZ-Bericht zur Ausstellung über den „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland. Eine unbedingt empfehlenswerte Ausstellung, die gleichzeitig bewusst macht, was in Wien immer noch fehlt: Ein Haus der Geschichte.

 

 

Eine Wiener Schau über den «Anschluss» von 1938

Richtige Ausstellung, falscher Ort

Vor 75 Jahren wurde Österreich unter dem Jubel der Massen von den Nationalsozialisten dem Deutschen Reich einverleibt. Was folgte, war Gleichschaltung, Verfolgung und Kahlschlag. Eine Ausstellung in Wien sucht an Einzelschicksalen das Ausmass der Katastrophe zu fassen.
Georg Renöckl

Der barocke Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek demonstrierte einst den Glanz des Hauses Österreich. Heute mahnt er an die dunkelsten Stunden in der Geschichte des Landes: «Nacht über Österreich» heisst die Ausstellung, mit der in prachtvollem Rahmen an die Annexion Österreichs durch Hitler-Deutschland erinnert wird. Genau 75 Jahre ist der von den Nationalsozialisten so genannte «Anschluss» her. Die Ausstellung zeigt den Wiener Heldenplatz als Bühne für Österreichs «Heimholung» ins Deutsche Reich, thematisiert die politische Propaganda sowie die einsetzende Judenverfolgung. Vor allem aber führt sie die von den Nazis ausgelöste geistige Finsternis vor Augen: Der immense Braindrain, von dem sich das geistige und kulturelle Leben Österreichs nie erholen konnte, wird durch fünfzehn Lebensläufe jüdischer Künstler und Intellektueller, denen die Flucht geglückt ist, anschaulich gemacht.

«Ein Jahr vor Österreichs Anschluss an das Dritte Reich bin ich in Wiener Neustadt zur Welt gekommen, ein Jahr danach sollte ich schon von ihr ausgeschlossen werden, und das sollte meine ganze Geschichte gewesen sein. Eine Momentaufnahme ohne Aufgabe; ein weggedachter Weg», lautet ein Text auf einer der Schautafeln. Dessen Verfasser Elazar Benyoëtz gilt heute als wichtiger Erneuerer der deutschsprachigen Aphoristik. Die Flucht der Familie nach Palästina in letzter Minute rettete dem Zweijährigen, der damals noch Paul Koppel hiess, das Leben. Genauso «weggedacht» wie das gerade erst beginnende Leben des hebräisch-deutschen Schriftstellers sollte die wissenschaftliche Karriere werden, zu der ein begabter Doktorand namens Adolf Placzek im Frühjahr 1938 ansetzte. Im Februar hatte er noch auf dem Opernball getanzt, sein Tagebuch offenbart Heiratspläne. Mit all dem war es im März 1938 vorbei. Dem schrittweisen Weg in die Vernichtung konnte Adolf Placzek durch seine Flucht entgehen, er wurde Kunst- und Architekturhistoriker in New York.

Das lange Warten auf Anerkennung

Selbst ein beeindruckendes Lebenswerk wie das der Publizistin Berta Zuckerkandl, in deren Salon jahrzehntelang die Elite des Landes verkehrt hatte, wurde durch den «Anschluss» mit einem Schlag für nichtig erklärt: Die Grande Dame des österreichischen Geisteslebens, die die grossbürgerlich-jüdische Wiener Kultur verkörperte wie keine Zweite, musste eine strapaziöse Flucht antreten, die die 74-Jährige über Frankreich bis nach Algier führen sollte. Sie starb kurz nach Kriegsende im französischen Exil.

Diese drei und all die anderen Emigranten eint neben ihren traumatischen Erfahrungen die lange Zeit, die sie auf versöhnliche Gesten aus Österreich warten mussten. Erst 2008, siebzig Jahre nach seiner Vertreibung, wurde etwa Benyoëtz mit dem österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet. In seiner Dankesrede sprach er von seiner Wiedergeburt «im ehrenvollen Anschluss an den schmachvollen von anno 38». Dazwischen liegt ein anderswo gelebtes Leben.

Dabei hätte der «schmachvolle» 13. März 1938, an dem Österreich per Gesetz Teil des Deutschen Reiches wurde, durchaus auch zum Nationalfeiertag werden können: Für diesen Tag war eine Volksabstimmung über Österreichs Unabhängigkeit angesetzt, von der ein überwältigendes Votum für die Souveränität erwartet wurde. Überwältigend war schliesslich nur der Jubel Hunderttausender beim Empfang der einmarschierenden Wehrmacht. Zahlreiche Fotos der Ausstellung dokumentieren den Stimmungswandel, für den es wohl keine einfache Erklärung gibt. Eine Übersicht über Österreichs Entwicklung seit 1918 hilft immerhin beim Verständnis der mentalen Ausnahmesituation, in der sich die Bewohner des übrig gebliebenen Restes der Donaumonarchie nach wie vor befunden haben mussten.

«Mit diesem Tag ist in Wahrheit der grosse Krieg zu Ende», schrieb ein von Hitler begeisterter Karl Heinrich Waggerl über den «Anschluss». Wer nicht nur über den naturgemäss beschränkten Horizont eines Blut-und-Boden-Dichters verfügte, blickte weiter, wie der ehemalige k. u. k. Offizier Rudolf von Eichthal. Dieser beklagte am 13. März in seinem Tagebuch das «Ende des tausendjährigen Österreichs!!!». Er setzt fort: «Seine Totenleuchte (. . .) wird der zweite Weltkrieg sein, der (. . .) ganz Europa in einem Meer von Blut und Tränen untergehen lassen wird.»

Kein Museum für Zeitgeschichte

Helfen die Elemente einer Geschichte des Antisemitismus, die die Ausstellung bereithält, beim Verständnis bisher wenig bekannter Aufnahmen von «Reibpartien», bei denen jüdische Bürger und Bürgerinnen pro-österreichische Parolen von Strassen und Hausmauern waschen mussten? Eher vergrössern sie die erschütternde Wirkung. Auf einer Foto trägt ein gedemütigter jüdischer Jugendlicher die gleichen Lederhosen wie die paradierenden Hitlerjungen auf einem Bild in einer anderen Vitrine. Eine weitere Foto zeigt eine Tafel mit der Aufschrift «Juden betreten diese Parkanlage auf eigene Gefahr» am Eingang eines Wiener Parks – an Perfidie ist diese Warnung kaum zu übertreffen.

Es spricht für die Ausstellung, dass man sie mit mehr Fragen verlässt, als man sie betreten hat. Die Schwärze der Nacht, die der «Anschluss» über Österreich breitete, soll und kann auf dem wenigen Platz zwischen Coronelli-Globen und Marmorstatuen unmöglich in ihrer ganzen Tiefe ausgelotet werden. Es wäre ungerecht, dies den Ausstellungsmachern als Mangel vorzuwerfen. Vielmehr ist der in der Begleitbroschüre zu lesende Satz, die Nationalbibliothek sei der richtige Ort für eine solche Ausstellung, nur ein Teil der Wahrheit: Sie ist das nur angesichts des Umstandes, dass es derzeit gar keinen anderen Raum dafür gibt. Noch immer hat Österreich kein Museum für Zeitgeschichte, obwohl dafür seit eineinhalb Jahrzehnten fertige Konzepte bestehen. Nur ein solches Haus der Geschichte wäre der richtige Ort für eine (Dauer-)Ausstellung über die Ereignisse vor 75 Jahren, die mehr bieten könnte und müsste als den in der Nationalbibliothek stimmig präsentierten Ausschnitt. Zur historischen Schande von 1938 steht dieser Mangel in keinem Massstab, zur Selbstzufriedenheit besteht dennoch kein Anlass.

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