Kunst nach Vorschrift

Weil ich gerade wieder einmal über den immer wieder beeindruckenden Jacques Roubaud gestolpert bin: Hier ein schon älterer Text über Roubaud, Perec und eines der schrägsten Kochbücher überhaupt. Gemeinsamer Nenner: OuLiPo. Immer wieder schön! (und hier der Link zur NZZ)
 

Kunst nach Vorschrift

Seit bald fünfzig Jahren wird in der Oulipo-Werkstatt «potenzielle» Literatur hergestellt – drei neue Bände sorgen für kulinarisches, literarisches und mathematisches Vergnügen.

Georg Renöckl

Ein imaginärer Tierversuch: Wie würde wohl ein Labyrinth aussehen, das von den Laborratten, die später den Ausgang finden sollen, selbst geplant wird? Das Resultat hinge wohl vor allem von Intelligenz, Ehrgeiz und Spieltrieb der Tiere ab. Stellt man sich diese Ratten nun als besonders intelligent, ausgesprochen ehrgeizig und extrem verspielt vor, dann bekommt man eine Ahnung davon, was Raymond Queneau gemeint haben könnte, als er die im Jahr 1960 von ihm mitgegründete Autorengruppe Oulipo (Akronym für «Ouvroir de littérature potentielle») mit einer derartigen Versuchsanordnung verglich. «Contraintes», selbstauferlegte Regeln bzw. Zwänge stehen am Anfang der literarischen Produktion dieser «Werkstatt für potenzielle Literatur». Ihr Ziel ist es, dem Lesen und Schreiben neue Spielarten abzugewinnen.

Hunderttausend Milliarden Gedichte

Eines der eindrücklicheren Beispiele dafür lieferte Queneau selbst mit seinen «Hunderttausend Milliarden Gedichten». Er schrieb zehn (!) Sonette, deren Zeilen beliebig ausgetauscht werden können, was zehn hoch vierzehn Kombinationen erlaubt. Geschätzte Lesezeit: je nach Tempo zwischen 90 und 190 Millionen Jahre. Kleine Lesehilfe: Die Buchseiten wurden so in Streifen geschnitten, dass sich jede Zeile einzeln umblättern lässt. Ob die Gedichte so gut sind wie der Trick, der ihnen zugrunde liegt? «Seien wir lieber intelligent als seriös», lautete jedenfalls einer der von Queneau formulierten Oulipo-Grundsätze. Bei allem Vermeiden von krampfhafter Seriosität funktioniert ein grosses Spiel wie das Oulipo nur mit konsequent eingehaltenen Regeln, und seien sie noch so skurril.

Fünfunddreissig lebende und tote Autoren gehören der Werkstatt an, Verstorbene bleiben Mitglieder, sie sind «wegen Ablebens entschuldigt». Neben Autoren wie Georges Perec, Italo Calvino und Oskar Pastior werken in dem erlesenen Kreis, in den nur aufgenommen wird, wer sich nicht dafür bewirbt, aber auch «reine» Mathematiker. Einer von ihnen, Jean Lescure, erfand das bekannte Literatur-Produktions-Verfahren «s + 7», das Ersetzen der Substantive eines Textes durch das jeweils siebtnächste im Wörterbuch. Das Spiel lässt sich natürlich auch mit anderen Zahlen durchführen, die Regel wurde rasch auf «s + n» erweitert.

Rezepte mit doppelten Farcen

«Am Anfang schuf Gott Hirn und Eintopf. Und der Eintopf war wüst und leer, und es herrschte Fisch auf der Terrine» – so beginnt die Genesis nach Marcel Bénabou, dem «definitiv provisorischen» bzw. «provisorisch definitiven» Sekretär der Literaturwerkstatt. Es handelt sich um eine Variation der «s + n»-Methode, Bénabou ersetzt jedes Substantiv durch das jeweils nächste «kulinarisch verwendbare». Wir sind damit am Anfang des Kochbuchs «Bis auf die Knochen», das kulinarische Texte nach dem Oulipo-Prinzip enthält. «Oucuipo» nennen das die Autoren, «Ouvroir de cuisine potentielle» – eine der vielen in der Folge des Oulipo entstandenen Werkstätten, die unter dem Überbegriff «Ou-X-Po» geführt werden und deren Vertreter die Idee, kreative Potenziale durch formale Zwänge auszuloten, auf andere Künste anwenden.

Aufbauprinzip des von Jürgen Ritte herausgegebenen Buchs ist ein langes mehrgängiges Menu. Neben absurden Rezepten für «Saure Sardinosaurier» oder Harry Mathews gefüllter Lammschulter auf auvergnatische Art, die nicht zufällig die «doppelte Farce» im Titel führt, enthält das Oucuipo-Kochbuch auch durchaus Nachkochbares, etwa von Georges Perec. Die Gäste sollten dabei allerdings genauso viel Vergnügen an Speisen haben, die ausschliesslich einen bestimmten Vokal enthalten, wie der Koch – wenn etwa ein Abend mit «Bretzeln & Semmeln, Schnecken, Bremer Krebsen» beginnt und mit «Kermesbeerengelee, Hefe-Ecken, Chester, Tee, Jerez» endet. Zum Ausgleich kann man ja ein «lipogrammatisches» Abendessen veranstalten, bei dem der zuvor in Unmengen genossene Vokal nicht vorkommen darf. «Maishuhn in Sauvignon» etwa: «Du kaufst ’n Maishuhn, doch nicht so ’n Huhn aus’m Käfig, nimmst das Huhn aus, hackst ihm Fuss und Hals ab, flammst das Huhn mit Cognac bzw. mit Calvados ab und salzt dann.»

Ergänzt werden die Rezeptvorschläge durch allerlei Beilagen wie Interviews mit Forellen und Mikroben («Um die Antworten der Mikroben zu lesen, legen Sie das Blatt bitte unter ein Mikroskop») oder auch eine streng wissenschaftliche Untersuchung, bei der das Kreischverhalten von Opernsängerinnen unter Tomatenbewurf analysiert wird. Gegen Ende des Bandes schleichen sich Tippfehler ein, die sich dann als Zeichen zunehmender Trunkenheit eines Weinverkosters herausstellen, den Abschluss macht ein Absacker in Form eines Bistro-Gedichts von Ian Monk.

Bei allem Unterhaltungswert, den dieses «Kochbuch, das jeder braucht» ohnehin schon hat, soll ein weiterer Verdienst des Herausgebers, der als Übersetzer, Kritiker und Germanist in Paris lebt, nicht unerwähnt bleiben: «Bis auf die Knochen» versammelt nicht nur bekannte, sondern auch viele bisher nur an entlegenen Stellen veröffentlichte Texte, die dem deutschsprachigen Publikum erstmals in Übersetzung zugänglich gemacht werden.

Anleitungen zum Chefgespräch

Ähnlich verdient gemacht haben sich die Herausgeber von Georges Perecs «Über die Kunst seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten», einem 1968 erstmals veröffentlichten Text, der nach mehreren Bearbeitungen in Vergessenheit geriet und nun im Nachlass des Autors wiederentdeckt wurde. Er hat ein Organigramm zum Ausgangspunkt, das von einem mit Perec befreundeten Wissenschafter stammt. Das Schaubild ist bereits ein absurdes Kunstwerk, eine Persiflage auf tatsächlich existierende Pläne zum Verhalten in verschiedenen Situationen. An die hundert Pfeile führen einen Arbeitnehmer, der sich entschlossen hat, eine Gehaltserhöhung zu beantragen, von einer Entscheidungsfrage zur nächsten (etwa von «Ist Mademoiselle Y in ihrem Büro?» zu «Hat sie gute Laune?»). Freilich wird beim Betrachten rasch klar, dass es zwar viele Wege zurück zum Start, aber wohl keinen zum Erfolg gibt.

Perec macht aus dem witzigen Bild einen aberwitzigen Text. Er nennt seine Vorgangsweise «linear», wobei das keineswegs «geradlinig» bedeutet. Vielmehr werden alle möglichen Varianten, Kombinationen und Umwege durchgespielt, die sich auf Grundlage des Organigramms finden lassen – in einem fortlaufenden, eben «linearen» Text ohne Satzzeichen und Grossbuchstaben. Das mag nach intellektueller Selbstkasteiung klingen, liest sich aber höchst vergnüglich und überraschend – Perec probiert keineswegs mechanisch Kombinationen durch, sondern variiert den Text lustvoll und virtuos. Das Fehlen von Satzzeichen stört den Lesefluss nicht, da immer wiederkehrende Formeln (wie «da gibt es nur entweder oder») für Orientierung und Rhythmus sorgen. Auch ein Blick auf das dem Text vorangestellte Organigramm kann sich bei der Lektüre als hilfreich erweisen. Manche der verwendeten Begriffe und Abkürzungen darauf bleiben freilich unklar, wobei auch Perec seine Unkenntnis unumwunden zugibt – um daraus gleich neue Stolpersteine für seinen bedauernswerten Angestellten zu konstruieren:

«entweder handelt es sich um eine T-60-frage oder es handelt sich nicht um eine T-60-frage aber sie wissen nicht was eine T-60-frage ist und ich kann ihnen leider nicht helfen da ich es selbst nicht weiss sie antworten daher auf gut glück und natürlich antworten sie dass es sich in der tat um eine T-60-frage handelt ja aber ruft daraufhin ihr abteilungsleiter und bricht in ein saumässig sardonisches lachen aus ja aber wenn es sich um eine T-60-frage handelt dann fällt das nicht in meinen aufgabenbereich»

– und wieder geht es zurück an den Start. Kafka hätte wohl seine helle Freude an dieser Beschreibung eines in den Mühlen der Verwaltung gefangenen, langsam alternden modernen Sisyphus gehabt, dessen Gehalt trotz aller Mühe nie steigen wird. Perecs Text ist nicht nur ein glänzender literarischer Scherz, sondern auch aktuell wie eh und je.

55 555 Golfbälle

Eine wahre Sisyphusaufgabe steht auch im Zentrum von Jacques Roubauds 2003 erstmals auf Deutsch erschienenem Roman «Der verlorene letzte Ball». Der 1932 geborene Mathematikprofessor zählt zu den unter den Oulipoten öfter anzutreffenden literarisch-mathematischen Doppelbegabungen. Er bezeichnet sich selbst als «Mathematik- und Lyrikkomponisten», wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet (2008 mit dem Grand Prix de littérature de l’Académie française) und gilt als Experte auf dem Gebiet der Artus-Epik, des Sonetts und der japanischen Lyrik. Nicht zuletzt zählt er zu den Pionieren des Go-Spiels in Europa.

In seinem kurzen, konzentrierten Roman erzählt Roubaud von einer Freundschaft zwischen zwei Heranwachsenden in Südwestfrankreich zur Zeit des Vichy-Regimes, die ohne ersichtlichen Grund in eine Art Schuldknechtschaft kippt. Laurent und Norbert, NO genannt, sind unzertrennliche Freunde. Ihre Leidenschaft ist das Golfspiel, sie arbeiten als Caddies in einem Golfklub am Meer, der nach der Besetzung der «freien» Zone auch von Nazis frequentiert wird. Aus einem zufällig belauschten Gespräch erfährt Laurent von einer tödlichen Gefahr für seinen Vater, der in der Résistance tätig ist. Er bittet NO, diesen zu warnen, und verspricht, ihm dafür jeden Wunsch zu erfüllen. Der Vater kann sich retten. Vor seinem Untertauchen nimmt er Laurent noch das Versprechen ab, niemals sein Wort zu brechen. Er stirbt in Auschwitz. Aus Gehorsam gegenüber dem toten Vater fühlt sich Laurent verpflichtet, den absurd hohen Preis, den NO für den Freundschaftsdienst fordert, zu bezahlen: 55 555 beim Spiel verlorene Golfbälle. Wort zu halten, wird für Laurent zur Lebensaufgabe.

Leichtfüssig und elegant erzählt Roubaud seine berührende Geschichte um eine zerstörte Freundschaft und ein verpasstes Leben vor dem Hintergrund von Résistance und Kollaboration. Natürlich bleibt man aber auch an der geforderten Menge von Golfbällen hängen. Warum ausgerechnet diese Zahl? Immerhin haben wir es mit einem Autor zu tun, dessen literarisches Schaffen um die Verbindung von mathematischen und lyrischen Gesetzmässigkeiten kreist. In der Zahlentheorie gehört die Ziffer Fünf zu den «unerreichbaren» Zahlen (55 555 jedoch nicht). Soll dadurch die Unmöglichkeit symbolisiert werden, das Versprechen zu erfüllen? Auch der ungewöhnliche Name NO lässt sich «mathematisch» lesen, beispielsweise wenn man das O durch eine Null ersetzt, was durchaus Sinn ergibt – es stellt sich nur die Frage, ob man hier die Grenze von Poesie und Mathematik erreicht, die Roubaud stets zu verwischen sucht, oder die von Spiel und Spielerei. Die Antwort wird wohl je nach dem Sensorium des einzelnen Lesers für mathematisches Raffinement variieren. Der Roman (oder ist es eine Parabel?) funktioniert jedenfalls auch ohne Lösung der Zahlenrätsel, wenn auch mit einem Schönheitsfehler: Die Schlusspointe wird zu früh verraten, die Luft ist vor dem Ende draussen.

Jürgen Rittes Kochbuch, Georges Perecs Verhaltensschaubild und Jacques Roubauds Roman sind drei höchst unterschiedliche, aber gleichermassen lesenswerte Neuerscheinungen aus der Oulipo-Werkstatt. Sie erinnern an die grosse Vergangenheit und zeigen die vitale Gegenwart einer der langlebigsten Autorenvereinigungen der Welt. Nebeneinandergestellt bilden sie übrigens eine hübsche französische Tricolore auf dem Bücherregal. Das ist jetzt aber wirklich ein Zufall.

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