Paris: Linkes Ufer

Hier gehts zum Presse-Artikel vom 18. 09. 2009

Das größte Pariser Stadterneuerungsprojekt seit Baron Haussmann steht vor seinem Abschluss. Zur Erinnerung: Es war der Baron mit dem deutschen Namen, der als Pariser Präfekt die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ so umbaute, wie wir sie heute kennen. Auf Geheiß Napoleons des Dritten ließ er alte Viertel abreißen oder von breiten Avenuen und Boulevards durchschneiden, die Fassadengestaltung vereinheitlichen, großzügige Gehsteige, Parks und Alleen anlegen, prächtige Monumente und neue Bahnhöfe errichten.

Als sich die riesige Staubwolke nach mehreren Jahren gelegt hatte, war aus der verwinkelten und dreckigen mittelalterlichen Stadt eine glamouröse und funkelnde Metropole ­einer aufstrebenden Weltmacht geworden, kurz: die schönste Stadt der Welt, der Millionen von Touristen Jahr für Jahr rettungslos verfallen. An den Gestaltungswillen des kaiserlichen Stadtplaners knüpfte in den 1980er-Jahren François Mitterrand an, einer dieser republikanischen Könige, wie sie nur Frankreich hervorbringen kann.Direkt an der Seine, zwischen den Wohntürmen des längst zur Chinatown gewordenen 13. Arrondissements und dem Fluss, war ein riesiges Gelände freigeworden: 130 Hektar, ein Betriebsgelände der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF, das niemand mehr brauchte. Mitterrand hatte damit nicht nur einen Standort für seine neue Nationalbibliothek gefunden, sondern auch eine urbanistische Spielwiese sondergleichen.

Starchitects. 130 Hektar in einer flächenmäßig relativ kleinen Stadt wie Paris, die in das Korsett der Ringautobahn Péripherique gezwängt und von dicht besiedelten Banlieues umzingelt ist – eine einmalige Chance, der Stadt seinen Stempel aufzudrücken, die genützt werden wollte. Die Welt sollte sehen, dass Paris noch längst nicht zum Freilichtmuseum geworden ist.

Heute, zwei Jahrzehnte später, ist das ehemalige No Man’s Land nicht wiederzuerkennen, das Projekt „Paris Rive ­Gauche“ so gut wie umgesetzt. Ein lebendiges Stadt- und Universitätsviertel, ein Quartier Latin des beginnenden 21. Jahrhunderts, sollte die Crème de la Crème der französischen „Starchitects“, die sich hier unter der Leitung von Christian de Portzamparc austoben durfte und immer noch darf, aus dem Boden stampfen. Den spektakulären Auftakt des Projekts bildete die 1996 eröffnete neue Nationalbib­liothek. Um sie zu besichtigen, sollte man vom gegenüberliegenden rechten Seine-Ufer kommen. Dann kann man nämlich über die vom Österreicher Dietmar Feichtinger geplante Fußgänger- und Radfahrerbrücke Passerelle Simone de Beauvoir schlendern, die modernste, und ­eine der schönsten Brücken der Stadt. Wie zwei sich kreuzende Wellen laufen ihre beiden Stege quer zum Wasser. Im Sommer finden im überdachten Mittelbereich regelmäßig Konzerte statt, am anderen Ende wartet – als verführerische Alternative zur Bibliothek – Josephine Baker. So heißt das großzügig dimensionierte, silbern glänzende Pariser Badeschiff mit seiner Sonnenterrasse unter dem abnehmbaren Dach, seinen beiden Solarien für bewölkte Tage und seinem stets gut ausgelasteten 25-Meter-Becken.

Aztekische Pyramide. Unmittelbar dahinter wachsen die Büchertürme der Nationalbibliothek in den Himmel, vier je 80 Meter hohe Speicher, die an geöffnete Bücher erinnern sollen und die Eckpunkte des Gebäudes markieren. Dominique Perrault hieß der damals kaum bekannte junge Architekt des Siegerprojektes, der nach dem Wunsch des Präsidenten die bedeutendste Bibliothek der Welt errichten sollte. Von der Seine kommend erinnert sie aufgrund ihres stufigen Sockels auch ein wenig an eine überdimensionierte aztekische Opferpyramide.

In ihrem Inneren befindet sich ein Kiefernwald aus der Normandie, dessen knorrige Bäume mit Tauen im Boden verankert werden mussten. Er symbolisiert einen Klostergarten, um den statt des Kreuzgangs die Lesesäle angeordnet sind. Man betritt die Bibliothek aber von oben, auf Wipfelhöhe der Bäume, über eine 60.000 Quadratmeter große Plattform aus Tropenholz. Es wäre ein Paradies für Radler und Rollschuhfahrer, doch Sport gibt es hier nur bei Regen, wenn auch unfreiwillig: Der Holzboden wird bei Nässe ziemlich rutschig, und die vier Türme sorgen für ordentlich Wind.

Im Inneren ist von all dem wenig zu merken: Rote Teppichböden, viel Sichtbeton, Metall und Holz sorgen für cool-elegantes Flair. Zwei Globen mit je vier Metern Durchmesser im Eingangsbereich, die einst für Ludwig XIV. angefertigt worden sind, zählen zu den Attraktionen. Auch Ausstellungen locken Menschen an, die nicht nur wegen der immerhin über zehn Millionen Bücher und Dokumente gekommen sind – oder wegen der einzigartigen Architektur. Ein Kino ist ins Gebäude integriert, in der Umgebung haben sich zahlreiche Cafés und Schnellimbisslokale angesiedelt, dazu kommen elegante Filialen des Luxusfeinkostladens Lenôtre und des Brötchen- und Quiche-Paradieses von Eric Kayser.

Kundschaft gibt es mehr als genug: Nicht nur die Bibliothek zieht Wissbegierige und Touristen an, auch die in den ehemaligen Getreidemühlen und Mehlspeichern untergebrachte Universität Denis Diderot mit ihren 27.000 Studenten bringt neues Leben ins Viertel. Die Verwandlung der von Rudy Ricciotti und Nicolas Michelin umgebauten „Grands Moulins“ und der „Halle aux Farines“ ist kein Einzelfall: Wo immer es möglich war, wurden die alten Hafen- und Industriegebäude in das Gesamtprojekt integriert. So befindet sich die Hochschule für Architektur, nur ein paar Schritte weiter, in einer alten Druckluftfabrik, die durch ­eine „bewohnbare Skulptur“ Frédéric Borels ergänzt wird und Raum für zweitausend Studenten bietet. Nicht nur Architekturstudenten, auch kulturinteressierte Touristen pilgern regelmäßig die Seine entlang stadtauswärts, fast bis zum Périphérique, um den spektakulären Bau zu bewundern.

Demnächst bekommt er ernsthafte Konkurrenz, wenn in diesem Herbst die „Cité de la Mode et du Design“ eröffnet wird. Die Betonkuben der „Magasins généraux“, ehemaliger Lagerhallen direkt am Wasser, wurden von Dominique ­Jakob und Brendan MacFarlane umgebaut und mit einer grün schimmernden „gläsernen Haut“ überzogen – was dem Gebäude prompt den Spitznamen „das grüne Ding“ (le truc vert) eingetragen hat. Die Mode- und Designhochschule „Institut Français de la Mode“, Ausstellungsräume, Boutiquen und ein Restaurant werden darin untergebracht. Paris, die Welthauptstadt der Mode, hat damit endlich einen Ort, an dem sich diese in Szene setzen kann.

Es wäre nicht Frankreich, hätte das neue Viertel nicht auch ein sprichwörtliches gallisches Dorf zu bieten – dass dieses in unmittelbarer Nähe der Rue René Goscinny liegt, ist aber wirklich Zufall. Es handelt sich um die „Frigos“, ein imposantes ehemaliges Kühlgebäude, das nach dem Ersten Weltkrieg zur Lagerung der Fleischimporte errichtet wurde. Die Eisenbahn, der das Betonmonstrum gehörte, überließ es Mitte der 80er-Jahre Künstlern, die die horrenden Mieten aus dem Zentrum vertrieben hatten. Für viele waren die Frigos aber nicht nur aus finanziellen Gründen interessant, sie boten geradezu ideale Arbeitsbedingungen für die unterschiedlichsten kreativen Berufe.Die absolut schalldichten ehemaligen Kühlräume – allein die Türen sind über 30 cm dick – ermöglichen ein ungestörtes Nebeneinander von Bildhauern, Schauspielern, Fotografen und Musikern, die die Räumlichkeiten auf eigene Kosten und nach eigenen Vorstellungen umgestaltet, sowie Heizungen, fließendes Wasser und Fenster eingebaut haben.

250 Künstler arbeiten derzeit in den Frigos, deren 9000 Quadratmeter 87 Ateliers beherbergen. Aus dem Staunen kommt man beim – ausdrücklich erwünschten – Betreten dieses Gebäudes nicht mehr heraus. Die einst außen verlegten Leitungen des alten Industriebaus verschwinden zwar nach und nach aus Sicherheitsgründen hinter Gipswänden, wodurch auch viel vom eigenwilligen Charme des Ortes verloren geht. Doch die schweren Kühlschranktüren sehen noch aus wie eh und je. Öffnet sich eine von ihnen, steht man unvermutet inmitten von gerade fertiggestellten Theaterkulissen, im Atelier eines mit Schweißgeräten hantierenden Bildhauers, in einem topmodernen Radiostudio mit Blick über die Seine oder in einer ohrenbetäubenden Bigbandprobe, von der kein Mucks auf den Gang gedrungen ist.

Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass es diesen magischen Ort heute noch gibt. Der Riesenkühlschrank störte Portzamparcs Konzept und sollte weichen. Erst durch zähen Widerstand erreichten die Künstler, dass die damals neue sozialdemokratische Stadtregierung das Gebäude 2003 kaufte und den Fortbestand des Kunstbiotops garantierte. Das ­außen wild bemalte bunte Gebäude passt zwar nicht so recht in den durchgestylten neuen Stadtteil, aber es tut ihm gut, zeigt es doch inmitten des Viertels, was einen großen Teil der Faszination von Paris ausmacht: Mut zur Veränderung – und Mut zum Widerstand.

INFO
AdressenPiscine Josephine Baker
http://www.nageurs.com/fiches/piscine-seine.html Port de la Gare, Quai François Mauriac, 75013 Paris

Nationalbibliothek
www.bnf.fr Quai François Mauriac, 7506 Paris cedex 13

Université Denis Diderot
www.univ-denis-diderot.fr 16, rue Marguerite Duras

Ecole d’architecture
www.paris-valdeseine.archi.fr 3/15 Quai Panhard et Levassor, 75013 Paris

Cité de la Mode et du Design
www.ifm-paris.com 36 Quai d’Austerlitz, 75013 Paris

Les Frigos
www.les-frigos.com 19, rue des Frigos. 75013 Paris

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