Für den „Falter“ habe ich über die Pariser Stadtentwicklung berichtet – von der Wien unendlich viel lernen könnte:
Knapp zwei Monate sind es noch bis zur Gemeinderatswahl. Der Bürgermeister liegt in den Umfragen voran. Er lädt in ein Fahrradcafé und verkündet, dass er nach seiner Wiederwahl jeden zweiten Parkplatz streichen wird. Das sind 60.000. Die Fläche würde für Radwege gebraucht: Es gäbe genug Garagenplätze.
Was in Wien nicht einmal als Satire denkmöglich ist, hat sich tausend Kilometer weiter westlich im Jänner 2020 so zugetragen. Der einzige Unterschied: Es war kein Bürgermeister, sondern eine Bürgermeisterin. Anne Hidalgo, seit 2014 die erste Frau an der Spitze der Pariser Stadtregierung. Schon vor sechs Jahren ließ die Sozialdemokratin im Rennen um das Rathaus mit einer spektakulären Ankündigung aufhorchen: Sie werde Paris zur Welthauptstadt des Fahrrads machen. Das trug ihr Spott ein, gelten Amsterdam und Kopenhagen da doch als uneinholbar. Radfahren war in Paris vor allem eines: lebensgefährlich. Doch die Spötter sind still geworden, Hidalgo hat ernst gemacht. Amsterdam ist zwar unerreicht, doch Paris am Rad ist heute gelebter Alltag.
Ein Traum (frz. „rêve“) steht im Zentrum des Projekts, für das die Stadtregierung in sechs Jahren 150 Millionen Euro lockergemacht hat: Ein 61 Kilometer langes Netz von Zwei-Richtungs-Radwegen entlang der Hauptverkehrsrouten, der Réseau Express Vélo, abgekürzt REVe. Vier Meter breit sind die Fahrrad-Highways, die das Stadtbild prägen. Etwa entlang der vormals vierspurigen Rue de Rivoli, der zentralen Ost-West-Achse zur Place de la Concorde. Eine Fahrspur wurde zum REVe umgebaut. Und unmittelbar nach der Eröffnung des ersten Teilabschnitts entfiel ein Drittel des Verkehrsaufkommens der sonst von Autos verstopften Rue de Rivoli auf den Radverkehr, verkündete Hidalgos Stellvertreter Christophe Najdovski.
Seit September steht beim Rathaus ein „Totem“ genannter Fahrradzähler, für März 2020 wurde hier mit der ersten Million gerechnet. Wie gut auch die anderen neuen Pariser Radwege angenommen werden, belegen Zuwachsraten, die Le Monde im Dezember veröffentlichte : 138 Prozent mehr Radfahrer in der Rue de Turbigo, plus 66 Prozent am Quai François-Mauriac, plus 80 Prozent am Boulevard Pasteur etwa. Insgesamt verzeichneten die Zählstellen ein Plus von 53,77 Prozent von 2018 auf 2019. Gemessen wurde noch vor den Streiks, die im Herbst die Radwege zum Überquellen brachten.
Über den Hauptgrund für die Zuwächse sind sich die Kommentatoren einig: Seit nicht mehr nur dort, wo es leicht geht, die eine oder andere Radspur an den Fahrbahnrand gepinselt, sondern ein durchdachtes, vom Kfz-Verkehr geschütztes Wegenetz umgesetzt wird, steigen viele auf das Fahrrad um. Gute Radwege locken diejenigen auf Hauptrouten, die zuvor in Seitengassen fuhren.
Ein wichtiges Element der Pariser Verkehrspolitik ist seit 2007 das Leihrad Vélib‘. Mit 20.000 Rädern und 300.000 Abonnenten galt es als bestes Leihradsystem der Welt, ehe es 2018 in die Krise schlitterte. Ein neuer Anbieter scheiterte an der Umstellung auf ein System, das 30 Prozent Elektrofahrräder bereitstellen und in die Banlieue reichen sollte. Ein Jahr lang war Vélib‘ so gut wie unbenützbar, das Ende des Pariser Fahrradzeitalters schien nahe. Doch seit 2019 geht es wieder aufwärts. Die technischen Probleme sind im Griff, das System hat mit 344.000 Abonnenten mehr Nutzer als je zuvor. Das dichteste Leihradnetz der Welt (1300 Stationen) bringt es auf 175.000 Fahrten pro Tag.
Sogar die notorisch unzufriedene Pariser Radlobby zeigt sich mittlerweile versöhnt: „Es gibt echtes politisches Engagement, sowohl im Dialog mit den Benützern als auch seitens der Bürgermeisterin, die persönlich Radwege einweiht. Das war vor einigen Jahren unvorstellbar“, so Simon Labouret, Sprecher von „Paris en selle“.
Doch in der ersten Hälfte von Hidalgos erster Amtszeit ging wenig weiter. Es dauerte, bis Radwege in den Köpfen der Beamten von einer Nebenzur Hauptsache der Verkehrsplanung wurden. Auch der Widerstand der Polizeipräfektur gegen jeden Quadratmeter Asphalt, der dem Kfz-Verkehr weggenommen wurde, war zäh. Zählt man die Radwegkilometer, hat Hidalgo ihr Ziel verfehlt: mit 1000 Kilometern ist sie 400 Kilometer unter Plan. Dennoch: Die Verkehrswende in den Köpfen hat stattgefunden. Der Traum von der autogerechten Stadt ist passé.
Nichts zeigt das deutlicher als eine Fahrt entlang des Filetstücks des alten Schnellstraßenrasters, mit dem der einstige Premier und Porsche-Fan Georges Pompidou die Hauptstadt überziehen wollte. Eine Meisterleistung der damaligen Ingenieurskunst ist der 861 Meter lange Tuilerien-Tunnel, zwischen Seine und rechtem Seitenflügel des Louvre. 1967 war der schönste Abschnitt der schönsten Schnellstraße der Welt folgender: Am Tunnelausgang öffnete sich ein herrlicher Blick auf den mittelalterlichen Kern der Stadt, die Île de la Cité -Sainte-Chapelle, Conciergerie, Notre-Dame. Weiter ging es unter dem Pont-Neuf hindurch, oft im Stau – aber mit Blick.
Doch Pompidous Schnellstraßenraster blieb Stückwerk. Den nach ihm benannten zentralen Abschnitt würde der 1974 verstorbene Benzinbruder heute kaum wiedererkennen: Bereits an der Place de la Concorde sperren Betonpoller die Fahrbahn für Kfz, der Tuilerien-Tunnel ist Radfahrern und Fußgängern vorbehalten. Aus der Schnellstraße wurde ein langgestreckter Park, Kinder flitzen auf Rollern hin und her, Erwachsene spielen Pétanque, picknicken, joggen oder flanieren. Die Türme und Mauern sind noch immer märchenhaft schön, nur stinkt es nicht mehr nach Abgasen. „Ich habe die Seine-Ufer nicht den Autos weggenommen. Ich habe sie den Parisern zurückgegeben“, bringt die Bürgermeisterin die Veränderung auf den Punkt.
Von manchen wird sie bereits mit Georges Eugène Haussmann verglichen, der als Präfekt unter Napoleon III. das heute vertraute Gesicht der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ schuf. Ähnlich wie Haussmann, der Paris durchlüften und von schädlichen Dünsten befreien wollte, geht es Hidalgo um die Pariser Luft: Feinstaub und Stickoxide machen das Atmen an zu vielen Tagen zum Gesundheitsrisiko, dazu kommt die von Jahr zu Jahr schlimmer werdende Hitze im Sommer. In ihrem Buch „Respirer“ („Atmen“), erklärte Hidalgo im Herbst 2018: „Ich kann handeln. Ich handle. Und die erste der großen Herausforderungen für die Stadt Paris, diejenige, die sich auf alle anderen auswirkt, ist der Klimawandel.“
Die Resultate sind messbar: Während der Anteil des Radverkehrs in die Höhe schnellte, sank 2019 der Kfz-Verkehr in der Hauptstadt um acht Prozent, über Hidalgos Amtszeit betrachtet um 19 Prozent. Im zwölf Millionen Einwohner starken Ballungsraum ging der Kfz-Verkehr erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg zurück, um immerhin fünf Prozent.
Der wahlkämpfenden Bürgermeisterin geht das nicht weit genug. Wenn Anne Hidalgo über die „radikale Veränderung“ von Paris spricht, meint sie nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft. Das für den Fahrradverkehr vorgesehene Budget soll während ihrer zweiten Amtszeit von 150 auf 350 Millionen Euro steigen, das entspricht 26 Euro pro Einwohner. Ausnahmslos alle Pariser Straßen sollen 2024 mit dem Rad befahrbar sein. Zu den vorhandenen 15.000 Fahrradabstellplätzen kommen 100.000 weitere. Die 60.000 gestrichenen Autostellplätze weichen einem „Vélopolitain“ genannten, 170 Kilometer langen Netz an Radwegen, das dem Verlauf der Metro folgt. „Ich will die Pariser nicht daran hindern, ihr privates Fahrzeug zu benützen, ich will ihnen die Möglichkeit geben, darauf zu verzichten“, so Hidalgo. Und niemand lachte, als sie bei der Präsentation ihrer Pläne einmal mehr ankündigte: „Paris wird die Hauptstadt des Fahrrads.“
Danke für den tollen Artikel!
Bitte um eine Quellenangabe zu „…sank 2019 der Kfz-Verkehr in der Hauptstadt um acht Prozent, über Hidalgos Amtszeit betrachtet um 19 Prozent“!
Gern, ich habe das in Libération gelesen, deren Zahlen stammen aus einem Artikel in Les Échos: https://www.lesechos.fr/politique-societe/regions/sous-lere-hidalgo-le-trafic-automobile-a-recule-de-19-a-paris-1173586