Mörder, Dieb, Araber

„Straße der Diebe“ ist der Roman zum Arabischen Frühling – geschrieben von Mathias Enard, einem Autor mit stupendem Wissen über den Mittelmeerraum. Hier die NZZ-Besprechung: 

Georg Renöckl

120 000 Kilometer legte der marokkanische Forscher und Gelehrte Ibn Battuta im Lauf seines Lebens zurück. Für Lakhdar, den belesenen Ich-Erzähler in Mathias Enards Roman «Strasse der Diebe», ist der Vergleich mit seinem Landsmann aus dem fernen 14. Jahrhundert ziemlich frustrierend, denn Ibn Battuta erwähnt keine Pässe, Ausweise, Passierscheine in seinen Reiseberichten, reist nach seinem Belieben und fürchtet offenbar nur Räuber. «Es war niederschmetternd, wenn man daran dachte, dass man heute, sofern man Mörder, Dieb oder eben einfach nur Araber war, nicht einfach die Serenissima oder die Stadt des Lichts besuchen konnte.» Lakhdar träumt von Paris und Venedig, muss sich aber in einem heruntergekommenen Viertel Barcelonas verstecken. Die Polizei sucht ihn als Raubmörder – zwar zu Unrecht, doch wer würde einem illegal eingewanderten Araber Glauben schenken?

Enges Elternhaus

«Lakhdar» bedeutet «Grün», die Farbe der Hoffnung. Der Erzähler ist jedoch bereits in jungen Jahren, lange vor der Emigration, in einer ausweglosen Situation: Die Eltern verstossen ihn wegen einer Affäre mit seiner Cousine, an deren Tod er sich zudem unwissentlich mitschuldig macht. Aus dem Elend, in das er danach schlittert, zieht ihn schliesslich eine Gruppe von Islamisten. Deren soignierter Anführer verschafft ihm eine Existenz als Buchhändler, zwingt ihn aber auch, beim Verwüsten der von einem Alkohol-«Sünder» geführten französischen Buchhandlung mitzumachen, deren Stammkunde Lakhdar zuvor war. Dank der Liebe einer spanischen Arabistik-Studentin schafft er es, auf Distanz zu den sich immer weiter radikalisierenden «Freunden» zu gehen, bleibt zunächst jedoch ein Gefangener des eigenen Landes. Nach Europa gelangt er dann eher zufällig, ist zur falschen Zeit am falschen Ort, wird als Verbrecher gesucht und fühlt sich im Viertel um die titelgebende «Strasse der Diebe» erst recht in der Falle. Erst als er sich zu einer Tat durchringt, die ihn tatsächlich ins Gefängnis bringt, findet er zu innerer Freiheit.

Lakhdars Geschichte wirkt wie eine Illustration des jüngsten Zeitgeschehens nördlich und südlich des Mittelmeers: In Nordafrika erlebt der Erzähler die Desillusionierung nach dem arabischen Frühling und den islamistischen Griff nach der Macht mit. In Spanien kommt er ausgerechnet bei einem Bestattungsunternehmen unter, das sich auf die Repatriierung der Leichname ertrunkener afrikanischer Flüchtlinge spezialisiert hat. Judit, seine grosse Liebe, engagiert sich währenddessen bei den «Indignados» und verliert gemeinsam mit der sich langsam totlaufenden Bewegung jegliche Energie.

Enard arbeitet die Ereignisse der letzten Jahre in seinen philosophisch-politischen Roman nicht nur ein, er lässt seinen Erzähler diese auch kommentieren. Die immer wieder ins Essayistische abgleitenden Erzählermonologe Lakhdars bremsen jedoch den erzählerischen Schwung des Romans, so kenntnisreich die seitenlangen Referate über die islamische Welt im Umbruch und so stimmig das ausführliche Nachdenken des erschöpften Helden über die erlahmenden Protestbewegungen im Maghreb und in Südeuropa auch sein mögen.

Düstere Atmosphäre

Die Faszination, die dennoch von Mathias Enards Roman ausgeht, verdankt der Text neben seiner Aktualität der düsteren, unheilschwangeren Atmosphäre, die ihm ein ausgeklügeltes System von Verweisen, Motiven und literarischen Referenzen verleiht. Zudem lassen seine langen, verschlungenen Sätze den Leser nicht mehr los und ziehen ihn in den Roman – vor allem die albtraumhaften Passagen sorgen für verstörend sinnliche Leseerlebnisse.

«Strasse der Diebe» sei vor allem auch ein Buch, das ihn davon abgehalten habe, über Syrien zu schreiben, sagte der heute in Barcelona lebende Mathias Enard, der einige Jahre im Nahen Osten verbracht und sich ein enzyklopädisches Wissen über dessen Sprachen und Kulturen angeeignet hat, in einem Interview. Womöglich ging es zu Beginn des dortigen Konfliktes zunächst auch um einen Drang nach Freiheit, wie ihn Lakhdar recht einfach auf den Punkt bringt: «Ich will nichts weiter als die Freiheit, zu reisen, Geld zu verdienen, ungestört mit meiner Freundin herumzulaufen, zu vögeln, wenn ich Lust dazu habe, zu beten, wenn ich Lust dazu habe, zu sündigen, wenn ich Lust dazu habe, und Kriminalromane zu lesen, wenn mir danach ist, ohne dass irgendjemand etwas dagegen einzuwenden hat, es sei denn Gott selbst.»

Mathias Enard: Strasse der Diebe. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser Berlin, Berlin 2013. 352 S., Fr. 31.90.

 

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