Im Spiegelbild der Kinderaugen

Eine schöne Ausstellung – mit ein paar Fragezeichen – in der ÖNB. Hier der NZZ-Bericht.
 
 
Georg Renöckl

Ein Zähne putzendes Mädchen empfängt die Besucher der Österreichischen Nationalbibliothek. Das Kind beugt sich über eine Waschschüssel, blonde Locken leuchten im Scheinwerferlicht. Allein das etwas müde Lächeln verrät die Anstrengung hinter der zeitlos schönen Fotografie, die doch schon an die hundert Jahre auf dem Buckel hat. «Kinder, wie die Zeit vergeht» – so lautet der treffende Titel der derzeitigen Ausstellung im Prunksaal der Bibliothek. Kinderfotos aus hundert Jahren laden zu einer Zeitreise aus ungewöhnlichem Blickwinkel: Durch den auf die Kinder gerichteten Sucher kommt immer auch die jeweilige Epoche mit ins Bild. – Familienfotos des Fin de Siècle zeigen teure Interieurs, klavierspielende Kinder, Väter mit Zigarette im Mundwinkel. Der unglückliche Kronprinz Rudolf scheint einen grossen Teil seiner Kindheit damit verbracht zu haben, in den Trachten der Völker der Monarchie und den Uniformen diverser k. u. k. Armee-Einheiten Modell zu stehen. Die privaten Alben von Berufsfotografen und fotografierenden Erzherzoginnen zeigen indes, dass es hinter den repräsentativen Fassaden auch aus heutiger Sicht «normales» Familienleben gab.

Die Schau zeichnet die wechselvolle Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert nach: unterernährte Kinder in abgerissenen Kleidern, mit ernstem Blick, die nach dem Krieg zum Aufpäppeln in die Schweiz geschickt wurden. Der junge Sieger des Aufsatzwettbewerbs «Heimaterde wunderhold’» posiert im Jahr 1935 stolz, aber auch blossfüssig vor der Tafel im Klassenzimmer. Schulklassen üben den «deutschen Gruss», auf einer Geburtstagstorte prangt ein Hakenkreuz aus Zucker. Jüdische Kinder, die auf der Flucht in London ankommen und ihre Habe am Leib tragen, sehen aus wie wandelnde Kleiderständer. Kinder spielen fröhlich zwischen den Trümmerhaufen der von Bomben zerstörten Wiener Innenstadt. Bald tauchen die ersten «Nietenhosen» (Blue Jeans) und «Groschenhefte» (Comics) in der Kinder- und Jugendkultur auf.

Neben den chronologisch geordneten Schaukästen setzten die Ausstellungsmacher auch thematische Schwerpunkte, wie das Verhältnis von Kindern zur Werbung oder die Entwicklung der Kindermode. Kontinuitäten, etwa bei der Geschlechterinszenierung, werden sichtbar, aber auch Brüche: Die Strasse hat ihre Rolle als Freiraum und Kinderspielplatz heute weitgehend eingebüsst. Unfreiwillig für Irritation sorgt der Satz des Wiener Arztes und Politikers Julius Tandler: «Wer Kindern Paläste baut, reisst Kerkermauern nieder.» So ambitioniert damit die Ziele der Kinderfürsorge des «roten Wien» umrissen werden, so katastrophal waren die Zustände in Wiens «Kinderpalästen» in der – hier nicht weiter erwähnten – Realität tatsächlich.

Die Ausstellung endet in den Kindheitsjahren der heutigen Elterngeneration: mitten in den bunten siebziger Jahren. Schade irgendwie.

Bis 23. Februar 2014 im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek, Josefsplatz 1, 1010 Wien.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.