Beruhigen kann man ausser sich selbst nichts und niemanden. Das wird jeder bestätigen, der gelegentlich mit weinenden Kindern oder störrischen Eseln zu tun hat. Eine falsche Bewegung, und die versuchte Beruhigung führt zu ihrem Gegenteil: Geplärr steigert sich zu Gebrüll, Sturheit zur blinden Aggression. Beim Verkehr ist das nicht anders. Diese Erfahrung macht zurzeit Wiens dafür zuständige Stadträtin Maria Vassilakou. Die grösste Shopping-Meile der Stadt, die Mariahilfer Strasse, wird gerade verkehrsberuhigt, mit Fussgängerzone, Busspur, Radfahr-Erlaubnis und Begegnungszonen – nach Schweizer Vorbild, wie man hört. Die Massnahme wurde gemeinsam mit den betroffenen Bezirken geplant, monatelang öffentlich diskutiert und nach Anrainerbefragungen, Dialogveranstaltungen, Abänderungen, Visualisierungen und Postwurfsendungen nun tatsächlich probeweise umgesetzt.
Sie schlug ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die seither dauererregte Berichterstattung dominieren zwei Wörter, welche wie die grüne Politikerin aus Griechenland stammen: «Chaos» und «Anarchie». Diejenigen, die sich trotz der medial vermittelten Aussicht auf brennende Barrikaden und blutige Pflastersteine an den Ort des Geschehens wagen und wohlbehalten wieder zurückkommen, qualifizieren die Debatte mit einem dritten griechischen Begriff: «Hysterie». Tatsächlich herrscht in der «neuen» Mariahilfer Strasse nämlich eine recht entspannte Atmosphäre, wenn nicht gerade die FPÖ demonstriert. Doch im Griechisch-Crashkurs, den die Linguistin Vassilakou der Öffentlichkeit angedeihen lässt, geht es nicht um einzelne Fremdwörter, sondern um Grundsätzlicheres. Wien steht unvermutet am verkehrspolitischen Scheideweg. Noch herrscht Probebetrieb, die Massnahmen können zurückgenommen werden. Die Symbolkraft des nächsten Schrittes wird hoch sein. Im alten Griechenland konsultierte man in solchen Lagen gern das Orakel von Delphi. Nichts anderes als eine moderne Version davon ist der derzeitige Testlauf: Wie die antike Priesterin verwirrt die Verkehrsstadträtin ihre Kundschaft mit rätselhaften Botschaften. Das gehörte schon damals zum guten Orakel-Ton, war aber schon immer blosse Folklore. Worauf es wirklich ankam, stand gut sichtbar über dem Tempeleingang: «Gnothi seauton» bzw. «Erkenne dich selbst».
Das gilt auch hier und heute in Wien. Die Wiener Öffentlichkeit sieht sich zur Grundsatzdiskussion über das grossstädtische Zusammenleben im 21. Jahrhundert gezwungen. Viele geben dabei ihr Innerstes preis und fördern Unschönes zutage. Die geifernde Gehässigkeit, mit der die Debatte geführt wird, dürfte auf Aussenstehende verstörend wirken. Man meint den Schaum, den mancher Leitartikler beim Schreiben vor dem Mund hatte, beim Aufschlagen der Zeitungen mit Händen zu greifen. Symptomatisch für die wienerisch-brutale Qualität des Diskurses steht das «Euthanasie-Spritzerl», das ein ÖVP-Mann der grünen Stadträtin per Facebook empfohlen hat.
Diese hat natürlich Fehler gemacht. Der grösste davon war, das Drohpotenzial des geflügelten Wortes «Wien bleibt Wien» zu unterschätzen. Ganz im Gegensatz zu Bürgermeister Michael Häupl, der freimütig zugibt, die neue Mariahilfer Strasse nicht besichtigen zu müssen, um eine Meinung darüber zu haben. Für Häupls Wiener SPÖ ist Maria Vassilakous Selbsterkenntniskur besonders unangenehm. Die Partei, die die Stadt seit Jahrzehnten mit komfortabler Mehrheit regiert, erkennt sich nämlich selbst nicht wieder: Vom Reformgeist und von den Visionen, die das «rote Wien» berühmt machten, ist wenig übrig. Das Ressentiment vieler Funktionäre gegenüber der zielstrebigen grünen Stadträtin lässt die Sozialdemokratie heute steinalt aussehen. Die Wiener Selbstfindung kann wohl noch eine Weile mit Spannung beobachtet werden. Einen möglichen Ausgang hat der Autor Hans Weigel schon vor Jahrzehnten formuliert: «Wien bleibt Wien – und das geschieht ihm recht.»