Odysseus fährt Straßenbahn – in Lissabon

Von Hervé Le Tellier gibt es nach „Kein Wort mehr über Liebe“ einen zweiten ausgezeichneten Roman auf Deutsch: „Neun Tage in Lissabon“. Hier die NZZ-Rezension.

 

 

Odysseus fährt Strassenbahn

 

Georg Renöckl

Vincent liebt Irene, doch Irene liebt Antonio. Dieser weiss nicht so recht, wen er lieben soll. Er ist Fotoreporter bei einer Pariser Zeitung und wird 1985 nach Lissabon geschickt, um gemeinsam mit einem schreibenden Kollegen, eben dem liebeskranken Vincent, über einen spektakulären Mordprozess zu berichten. Für Antonio ist die Reise eine Rückkehr in die Stadt seiner Jugend, zehn Jahre zuvor musste er Lissabon fluchtartig verlassen. Damals war seine grosse Jugendliebe Pata schwanger geworden, eine Schande, die der gewalttätige Vater des Mädchens auf seine Weise aus der Welt zu schaffen trachtete. Pata ist seither spurlos verschwunden.

W oder Georges Perec

«Electrico W» heisst der neue Roman von Hervé Le Tellier im französischen Original. Wer nun vergeblich in seinen Erinnerungen an die letzten Portugal-Ferien kramt, sei beruhigt: Es gibt keine Strassenbahn dieses Namens in Lissabon. Was es hingegen sehr wohl gibt, ist ein Roman von Georges Perec mit dem Titel «W oder die Kindheitserinnerung», und immerhin gehören Perec und Le Tellier der gleichen literarischen Gruppierung an, dem seit den sechziger Jahren fröhlich-geistvoll vor sich hinwerkenden Ouvroir de Littérature Potentielle, Oulipo genannt und als «Werkstatt für potenzielle Literatur» nur unzulänglich ins Deutsche übersetzbar. Die Perec-Spur scheint in die richtige Richtung zu führen: Für Antonio, aber auch für den Erzähler Vincent werden die «Neun Tage in Lissabon», die sie gemeinsam verbringen und die dem Roman seinen deutschen Titel geben, immer mehr auch zur Reise in die jeweiligen Kindheitserinnerungen.

Nur mit einer plan- und vorhersehbaren Strassenbahnfahrt hat der Lissabon-Aufenthalt der beiden nichts gemein. Vor allem für Antonio hat vielmehr Homer den Fahrplan geschrieben: Gleich einem modernen Odysseus kehrt er nach langer Abwesenheit zurück und wird von einer geheimnisvollen, wie die antike Kirke auf einer Insel lebenden Frau in ihren Bann gezogen. Penelope taucht allerdings vorerst keine auf, und hierin sieht der am Leben und an der Liebe vielfach gescheiterte Vincent seine Chance: Wenn er Pata für Antonio wiederfindet, so sein Kalkül, wird Irene für ihn frei. Doch dann verfällt Antonio seiner Kirke, Vincent trifft die nicht minder bezaubernde und geheimnisvolle Manuela, die Erzählstränge verwirren sich und gleichen so gar nicht mehr den parallel laufenden Schienensträngen einer der für Lissabon typischen Strassenbahnen.

Lieber intelligent als seriös

Parallelen zu anderen literarischen Werken gibt es hingegen zuhauf in Hervé Le Telliers Roman, der ungemein leichtfüssig die Tonarten zwischen komisch, erotisch, poetisch und tragisch wechselt. So ist es schwer, sich nicht gelegentlich an Pascal Merciers «Nachtzug nach Lissabon» erinnert zu fühlen: In beiden Romanen dient das selten gelesene Buch eines vergessenen Dichters mit tragischem Schicksal – Tod durch geplatztes Aneurysma – als roter Faden, nur ist dieser Poet bei Le Tellier kein philosophierender Romantiker wie Merciers Amadeu de Prado, sondern das portugiesische Oulipo-Mitglied Jaime Montestrela. Vincent versucht, dessen «Contos Aquosos» zu übersetzen – eine (wohl nicht die einzige) Gemeinsamkeit des Erzählers Vincent mit dem Autor Le Tellier. «Auf der Insel Tahiroha essen die zum Christentum konvertierten Kannibalen am Karfreitag nur Seeleute», lautet eine dieser durch die Bank absurden Kürzestgeschichten, die den Roman unterhaltsamer, aber nicht seichter machen – getreu dem Motto «Seien wir lieber intelligent als seriös», das einst von Raymond Queneau als Wahlspruch für die von ihm gegründete Literaturwerkstätte ausgegeben wurde.

Bleibt noch die Frage der «contrainte» bzw. der selbstgewählten Regel, der sich jedes Oulipo-Mitglied bei der literarischen Produktion unterwirft. Ziel der Übung: Spracherweiterung durch formalen Zwang. Seinem letzten Roman, «Kein Wort mehr über Liebe», legte Hervé Le Tellier etwa eine legendäre Meisterschaftspartie im – wohl nur Spezialisten bekannten – abchasischen Domino als Bauplan zugrunde. Ob er sich in «Neun Tage in Lissabon» an einem weiteren exotischen Brettspiel versucht, ob der im Roman oft zitierte, jung gestorbene Mathematiker Evariste Galois und das nach ihm benannte Modell zur Lösung algebraischer Gleichungen für die Romankonstruktion eine Rolle spielen oder ob sich der Mathematiker, Journalist und Linguist Le Tellier mit dem kunstvollen Ver- und Weiterknüpfen der zahlreichen in den Text eingewebten literarischen Anspielungen von Goethe bis Romain Gary begnügt – wer weiss.

Für das Vergnügen an Hervé Le Telliers elegantem Roman, den Jürgen und Romy Ritte mit viel Gespür ins Deutsche übertragen haben, spielt das Lösen etwaiger im Text versteckter literarischer oder mathematischer Rätsel jedenfalls keine Rolle. Man halte sich im Zweifelsfall an das Motto der ebenfalls zitierten Gertrude Stein: «If it can be done, why do it?»

Hervé Le Tellier: Neun Tage in Lissabon. Roman. Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte. DTV, München 2013. 280 S., Fr. 21.90.

 

 

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