Kurze Geschichte, langer Nachhall

 

Der Mythos Galizien – Ausstellung in Wien

Kurze Geschichte, langer Nachhall

Ein «nicht zu Ende geträumter Traum» sei Galizien, findet der österreichische Autor Martin Pollack, der das mit dem Habsburgerreich verschwundene Land in den achtziger Jahren literarisch wiederentdeckte. Er liefert damit eine der schönsten Definitionen für ein Gebiet, das Maria Theresia von Österreich nach der ersten polnischen Teilung 1772 nolens volens annektierte, um nicht alles den Russen und Preussen zu überlassen. So entstand das habsburgische Kronland Galizien: als Notlösung eines Grossmachtproblems. Es sollte nur 150 Jahre Bestand haben, lebt aber als erstaunlich haltbarer Mythos weiter. Diesem widmet das Wien-Museum derzeit eine Sonderausstellung.

An ihrem Anfang stehen Bilder aus der sprichwörtlichen guten alten Zeit: ein schwarz-gelber Grenzbalken an der Grenze zum Zarenreich, k. u. k. Offiziere mit steifen Kappen und üppigen Backenbärten, vielsprachiges, wuselndes Strassenleben, Prachtbauten, wie sie auch in Österreich stehen könnten. Dass es hinter dem Grenzbalken nicht immer so gemütlich zuging, zeigen die vier Perspektiven auf das Land, die unmittelbar danach vorgestellt werden: Die polnische, ukrainische, jüdische und österreichische Sicht der Dinge offenbaren Gegensätze, die im Lauf der kurzen Geschichte des Kronlandes nie ganz überbrückt werden konnten. Ruthenen, wie man die Ukrainer nannte, stellten die Mehrheit der Bauern, ihnen standen polnische Grossgrundbesitzer gegenüber.

Zivilisatorische Mission

Reiches jüdisches Leben gab es in der Region seit dem Mittelalter. Getreu dem Motto «Divide et impera» nützten die Österreicher, die sich als Träger einer zivilisatorischen Mission verstanden, die Spannungen für ihre Zwecke. Sie förderten die griechisch-katholische Kirche der Ukrainer und sollen auch das «galizische Gemetzel» von 1846 angezettelt haben, eine blutige Revolte der ruthenischen Bauern gegen die polnische Aristokratie – die wiederum drauf und dran war, sich gegen die Österreicher zu erheben. Diese verbesserten Verwaltung und Infrastruktur des Landes, 1877 erreichte die Nordbahn die russische Grenze. Kaiser Franz Josef bereiste Galizien, liess sich feiern und in lokaler Tracht abbilden.

Galizisches Erdöl machte Österreich-Ungarn zum drittgrössten Ölförderer der Welt. Doch die Industrialisierung und Modernisierung erfolgte spät und langsam, das Land mit der hohen Analphabetenrate blieb der Inbegriff rückständigster Peripherie. Literarische Zitate, die die Ausstellung durchziehen, sprechen eine eindeutige Sprache: «Alles ist hässlich, elend und schmutzig, die Menschen, die Pferde, die Hunde, auch die Kinder», schrieb Hugo von Hofmannsthal 1888 in einem Brief aus Galizien. Der in Brody geborene Joseph Roth, der den späteren Galizien-Mythos prägte wie kein anderer, nannte seine Heimat ein «Zwischenreich», für seinen Landsmann Karl Emil Franzos blieb es schlicht «Halb-Asien».

Galizien war Österreichs Armenhaus, aus dem Auswanderungswellen in Richtung Amerika rollten. Werbeplakate von Auswanderungsagenturen stehen für das galizische Elend. Doch auch das Gegenbild der «Galicia felix» gab es: Als Folge des österreichisch-ungarischen Ausgleichs bekamen die Völker der österreichischen Reichshälfte deutlich mehr Rechte, vor allem die Polen erlebten einen kulturellen und politischen Frühling.

Wie sehr der polnische Westen und der ukrainische Osten des Kronlandes auseinanderklafften, führen die Ausstellungsmacher anhand der Städte Krakau und Lemberg (Lwiw) vor Augen: Das ukrainische Lemberg vervierfachte seine Bevölkerung zwischen 1850 und 1919 und mauserte sich laut Joseph Roth zum «östlichen Ausläufer der alten kaiserlichen und königlichen Welt». Historische Filme und Aufnahmen lassen an Alt-Wien denken. Krakau, das zur Festung ausgebaut wurde und in seiner Entwicklung gehemmt blieb, verstand sich hingegen als «Refugium des Polentums».

Unfassliche Schrecken

Galiziens Ende war lang und schrecklich. 300 000 österreichisch-ungarische Soldaten starben auf seinen Schlachtfeldern im Kampf gegen das Zarenreich. Die militärische Katastrophe wurde von unfassbarer Härte des kaiserlich-königlichen Militärs gegenüber der Zivilbevölkerung begleitet, wovon erschütternde Fotos zeugen: Soldaten posieren neben reihenweise unter Spionageverdacht Gehenkten, in tristen Barackenlagern mussten Tausende Deportierte dahinvegetieren. Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte keinen Frieden, Polen und Ukrainer kämpften um die Vorherrschaft in Ostgalizien. Plakate feiern auf Polnisch den Tod der alten «Hexe Österreich», die Juden Lembergs werden auf Deutsch aufgerufen, sich gegen Pogrome im Zuge der polnischen Eroberung zu wehren.

42 000 Galizier lebten gegen Ende der Monarchie in Wien, ihren Spuren ist ein weiterer Teil der Ausstellung gewidmet. Während viele Polen nach 1918 in ihr wiedererstandenes Land zurückkehrten, blieben die galizischen Juden und Ukrainer meist in der österreichischen Hauptstadt. Nur wenige Schlaglichter wirft die Ausstellung auf die Zeit von «Galizien nach Galizien». Die schlimmsten Vertreibungen und ethnischen Säuberungen standen dem Land noch bevor, hier würde man sich als Ausstellungsbesucher die eine oder andere Landkarte mehr wünschen. Gespenstisch ist das Bild der SS-Freiwilligen-Division Galizien.

Nicht zuletzt der Missbrauch der Nationalitätenkonflikte durch die Nationalsozialisten lässt den Mythos Galizien in die Gegenwart hineinwirken, wie am Ende das Gästebuch zeigt: Darin wird eine wortreiche Debatte über den derzeitigen Ukraine-Konflikt geführt.

Mythos Galizien. Wien-Museum. Bis 30. August.

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