Kinderteller ohne PiPaPo

Für den Standard beobachtet: Die Eintönigkeit österreichischer Kinder-Speisekarten. Aus meiner Sicht bedauerlich, weil die Chance vergeben wird, Kindern ein etwas breiteres Spektrum an Gerichten und Geschmäckern zu vermitteln. Was man ja, wie Beispiele zeigen, durchaus erfolgreich machen kann. Interessant die Reaktion vieler empörter Poster: „Hände weg von unserem Kinderschnitzerl!“ Danke für die Bestätigung.

Also:

Der Mai duftet nicht nach Flieder, sondern nach Fritteuse. Über die langen Wochenenden mit den unvermeidlichen Familienausflügen freuen sich derzeit die Ausflugsgasthäuser. Noch bevor alle Erwachsenen bei Tisch sitzen und die Kinder um die Pferde- oder die Motorradschaukel zu streiten begonnen haben, fragen dort routinierte Kellner oder g’schaftige Tanten in die Runde: „Wie viele Kinderwiener?“ – Pommes und Ketchup sind selbstverständlich mitgemeint.

Wer in diesem Moment Widerspruch anmeldet oder gar in die Speisekarte schauen will, absolviert einen Schnellsiedekurs in Gruppendruck: Augenverdrehen oder „Aber die dürfen doch auch!“ bei den Kindern, ein genervtes „Meine Kinder essen aber nur…“ oder „Seids nicht so kompliziert“ bei den Co-Eltern der Runde. Wer keinen Streit will, fügt sich: Die eine Überdosis Traditions-Junkfood wird ihnen schon nicht schaden, und der Eisclown zur Nachspeise ist dann auch schon egal.

Szenenwechsel. Eine französische Schulklasse verbringt mit der österreichischen Sprachassistentin eine Reitwoche im Mühlviertel. Das Wetter, die Pferde, die Landschaft – alles paletti. Auch beim Essen sollte nichts schiefgehen, die Wirtsleute haben Erfahrung mit Schülergruppen: Frittatensuppe, Leberkäse, Schnitzel, Spaghetti, Würstel und andere „kindersichere“ Gerichte stehen auf dem Programm, der Orangen-Dicksaft auf dem Tisch. Am dritten Tag kommen die ersten Beschwerden der 13-Jährigen: „Dürfen wir auch Wasser trinken? Gibt es auch grünen Salat? Und Obst?“

„Wir essen nicht, was wir mögen, sondern wir mögen, was wir essen“, lautet ein Satz des Ernährungspsychologen Volker Pudel, der den Grund für das vermeintliche french paradox erklärt. Die Nahrungsmittel, an die wir uns bereits im Mutterleib zu gewöhnen beginnen, sind je nach Gesellschaft höchst unterschiedlich: Mexikanische Kinder werden bereits mit der Breikost in die feurige Vielfalt dutzender Chili-Sorten eingeführt, kleine Französinnen und Franzosen lernen früh die unzähligen Käsesorten ihres Landes kennen. In französischen Elternforen und Erziehungsratgebern herrscht relative Einigkeit in einem Punkt: Blauschimmel und reifer Camembert sind erst ab 12 Monaten empfehlenswert. In unseren Breiten gilt hingegen als Naturgesetz, dass Kinder nur milde Käse mögen.

Andere Länder, andere Geschmäcker – nur erklärt das noch immer nicht, warum hierzulande so viele Kinder mit der PiPaPo-Diät aufwachsen. Die Heidelberger Ernährungswissenschaftlerin Barbara Methfessel kürzt so die kulinarische Dreifaltigkeit „Pizza-Pasta-Pommes“ ab, die den mitteleuropäischen kindlichen Speiseplan (zu) oft dominiert. Methfessel betont die Rolle der Esskultur in der Familie: Angeboren ist dem Menschen lediglich eine Vorliebe für Zucker und Fett, der Rest eine Frage der Sozialisation. Die Ernährungswissenschaftlerin rät zu Behutsamkeit beim Ausprobieren neuer Lebensmittel, da Kinder ein fünfmal stärkeres Geschmacksempfinden als Erwachsene haben. Völlig verkehrt sei es aber, Kinder vor neuen Geschmäckern „schützen“ zu wollen, was häufig passiere.

Zentrale Bedeutung beim Essenlernen hat das limbische System: In dieser Hirnregion werden Gefühle und Geschmack gemeinsam gespeichert. Prousts Madeleine oder Walter Benjamins Märchen vom Maulbeer-Omelette verarbeiten das Gefühl von Geborgenheit literarisch, das einen durchströmt, wenn man einen vergessen geglaubten Geschmack aus glücklichen Kindheitstagen plötzlich wieder verspürt. Das funktioniert freilich auch umgekehrt: Speisen, die man in unangenehmen Situationen vorgesetzt bekam, etwa während Krankheiten, bleiben negativ konnotiert. „Sauce-Béarnaise-Syndrom“ nennt das die Wissenschaft. Wer will, dass seine Kinder neugierig auf neue Lebensmittel bleiben, sollte daher auf die Atmosphäre achten, die am Familientisch herrscht.

Essen hat aber auch mit Macht zu tun: Kinder begreifen sehr rasch, dass sie mit ihrem Essverhalten ihre Eltern kontrollieren können. Barbara Methfessel stellt eine Wechselwirkung zwischen dem ganz normale Ausprobieren kindlicher Macht und aktuellen Erziehungsmoden fest: Vielen Eltern falle es schwer, die Richtung vorzugeben und Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen. Diesen die Verantwortung für den Speiseplan zu überlassen, ist für die Ernährungswissenschaftlerin aber der falsche Weg.

Vielleicht sollten die Eltern im Ausflugsgasthaus ja einfach ehrlich zu sich selbst sein: Dass die Kinder nur dieses oder keinesfalls jenes essen, hat wohl mehr mit ihnen selbst zu tun als mit den empfindlichen Gaumen ihres Nachwuchses. Die gute Nachricht: Die Vorbildwirkung Erwachsener ist groß – und für diese sollte es kein Problem sein, Essen ganz ohne PiPaPo zu bestellen.

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