Dichter, Boxer, Deserteur

Arthur Cravan kennen heute nur mehr wenige – ein Fehler, wie hier nachzulesen ist.

Dichter, Boxer, Deserteur

Damals war er bekannt wie ein bunter Hund: Arthur Cravan, in Lausanne geboren, mischte vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs den Pariser Kulturbetrieb auf. Seine Spezialität: Selbstinszenierungen.
  • von Georg Renöckl
  • 26.3.2016, 05:30 Uhr

«Ich lebe in einem fast ständigen Delirium», schrieb Arthur Cravan in einem der Briefe, die er 1917 beinahe täglich an seine Geliebte und spätere Frau Mina Loy schickte. Liest man auch die übrige Korrespondenz und die Gedichte, Porträts und Rezensionen des Dichters, der eigentlich Fabian Avenarius Lloyd hiess, wird man dieser Aussage kaum widersprechen wollen. Arthur Cravan war ein Phänomen des Pariser Literaturbetriebs kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und zu seiner Zeit bekannt wie ein bunter Hund. Dann geriet er in Vergessenheit – bis er jetzt, aus Anlass des überall zelebrierten Jubiläums von Dada, als ein Quasi-Vorläufer der kurzlebigen Bewegung in Buchform wieder zutage tritt.

Radikale Brüche

1912 tauchte der in Lausanne geborene Brite mit der Zeitschrift «Maintenant», die er aus einem Gemüsewagen heraus verkaufte, gleichsam aus dem Nichts auf. Drei Jahre zuvor hatte er sich, damals zweiundzwanzigjährig, nach ausgiebigen Reisen in der französischen Hauptstadt angesiedelt, den gerade modernen Boxsport erlernt und es als fast zwei Meter grosser Hüne zu einigen Amateur-Erfolgen gebracht. Boxen und Literatur – heute eine denkbar seltene Kombination, doch in Cravans Epoche nicht ungewöhnlich: Es ist die Zeit der radikalen Brüche und Umwälzungen, der Beschleunigung aller Lebensbereiche und des Siegeszugs moderner Technologien – in vielem der unsrigen nicht unähnlich. Damals: Der Körper-, Geschwindigkeits- und Männlichkeitskult läuft immer mehr aus dem Ruder, Marinetti schreibt sein futuristisches Manifest. Nichtigkeiten werden zu Duell-Anlässen hochgejazzt, man prügelt, sticht und schiesst bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufeinander los. Den öffentlichen Diskurs prägt hysterisches Geifern.

Arthur Cravan ist wie geschaffen für dieses überspannte Klima. Der angeheiratete Neffe Oscar Wildes ist ein Provokateur, der es versteht, Journalisten mit einer stets variierten Lebensgeschichte bei der Stange zu halten. Er inszeniert sich selbst als «Hochstapler, Seemann im Pazifik, Mauleseltreiber, Orangenpflücker in Kalifornien, Schlangenbeschwörer, Hoteldieb, Holzfäller» und dergleichen mehr – gleich einem Adelsprädikat, das dem Buchtitel «König der verkrachten Existenzen» eine gewisse Stimmigkeit verleiht. Das verdienstvolle Buch versammelt die fünf Ausgaben von Cravans Zeitschrift sowie seine Briefe, von denen einige erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen. Ergänzt wird es durch einen Aufsatz von André Breton und ein Nachwort des Historikers und Cravan-Spezialisten Bastiaan van der Velden.

Rotzfreche Unbekümmertheit

Cravans Texte sind vom Furor ihrer Zeit durchtränkt, seine Kritiken von aggressiver Polemik, seine Gedichte mitunter von einer Derbheit, die einen heute noch staunen lässt. Lesenswert macht sie die Energie und die rotzfreche Unbekümmertheit, die aus den Texten sprudeln. So gelingt es Cravan 1913 tatsächlich, das Gerücht in die Welt zu setzen, Oscar Wilde – der bereits 1900 gestorben ist, gebrochen von Haft und Zwangsarbeit nach seinem Sittlichkeitsprozess – sei noch am Leben und führe eine Inkognito-Existenz. Nicht weniger ungeniert sind Cravans öffentliche Auftritte: Am 5. Juli 1914, dem Tag, an dem der deutsche Kaiser dem kriegslüsternen Österreich-Ungarn seine als «Blankoscheck» berühmt gewordene Unterstützung zusichert, veranstaltet er in den Pariser Sociétés savantes einen Abend, den man im Nachhinein als dadaistisch bezeichnen würde: Er feuert auf der Bühne Pistolenschüsse ab, preist in einem Vortrag den Sport, beleidigt sein Publikum und führt Boxtänze vor.

Als der Weltkrieg ausbricht, flieht er vor der drohenden Einberufung nach Barcelona, wo er in einem spektakulären Boxkampf gegen Jack Johnson, den ersten schwarzen Weltmeister, k. o. geht. Im selben Schiff wie Leo Trotzki reist er in die USA weiter. Trotzki beschreibt ihn in seinen Memoiren als Boxer und Schriftsteller, der es vorziehe, «die Kiefer der Herren Yankees im edlen Sport zu zertrümmern, als seine Rippen von irgendeinem unbekannten Deutschen durchstechen zu lassen». In New York hat Cravan noch einige Auftritte. Zur Eröffnung einer Ausstellung der «Society of independent artists», bei der Duchamp erstmals sein berühmtes Urinal als Readymade präsentiert, soll er einen Vortrag halten, zieht sich stattdessen nackt aus und kann nur mit Mühe von der Bühne gezerrt werden. Als ihm auch in den USA der Kriegsdienst droht, flieht er einmal mehr und strandet in Mexiko, wo sich seine Spur verliert. Er dürfte im Meer ertrunken sein, als er vor dem Tod in einem sinnlosen Krieg floh – eine weitere der beunruhigend vielen Parallelen zu unserer Epoche aus dem Leben dieses Dadaisten avant la lettre.

Arthur Cravan: König der verkrachten Existenzen. Aus dem Französischen von Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt. Nautilus, Hamburg 2015. 192 S., Fr. 29.50.

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