Herb, aber herzlich

Keine Overtourism-Gefahr in Nordfrankreich – recherchiert für die Presse:

 

 

Frankreich: Herb, aber herzlich

Die Thiérache an der Grenze zu Belgien wird oft übersehen − zu Unrecht. In dieser Region lässt sich Gehaltvolles über lange Industriegeschichte, soziale Utopien und landwirtschaftliche Feinkost erfahren.

Kirche von Vervins neben der antiken Stadtmauer – Imago

„Wir unterstützen nur die Bakterien, die ohnehin in der Milch drin sind, bei ihrer Arbeit“, erklärt Claire Halleux nicht ohne Tiefstapelei. Vielleicht sollte sie die vielen Goldmedaillen, die sie für ihren Käse verliehen bekommen hat, ja ihren kleinen Helferlein umhängen. Gemeinsam verwandeln sie täglich 1200 Liter Rohmilch der hofeigenen Kühe in 220 Käselaibe. Der Maroilles, ein quadratisch geformter Weichkäse mit orangefarbener Rinde, ist für sein mächtiges Aroma und seinen intensiven Duft berühmt-berüchtigt. Er besteht ausschließlich aus Rohmilch und Lab; zweimal wöchentlich werden die Laibe während der sechs- bis zwölfwöchigen Reifezeit im Keller mit Salzlake eingerieben. Den Rest machen die Bakterien, die dank höchster Hygiene und richtiger Temperaturen ideale Bedingungen vorfinden. Der unkomplizierte Käse mit dem starken Charakter passt zu Trappistenbier und zum Cidre aus der Gegend. Vor allem aber passt er zu seiner Herkunftsregion: Manchen ist er zu derb, andere mögen ihn genau deswegen. Er kommt ohne Chichi aus, weil die Zutaten stimmen. Wer ihn einmal entdeckt hat, kommt immer wieder auf ihn zurück.

Dass die Thiérache im Norden Frankreichs deshalb gestürmt wird, kann man nicht behaupten: Ruhiger als hier ist es fast nirgends im Land. Zu ruhig, finden manche. Vor einigen Jahren geriet die Gegend ins Gerede, weil gelangweilte Jugendliche nach dem Vorbild der Großstadt-Banlieues ein paar Autos abfackelten. Der rappende Krankenpfleger Kamini landete damals mit „Marly Gomont“, einem Song über das Kuhdorf, in dem er als einziger Schwarzer aufwuchs, einen YouTube-Hit. „Ein ganz normaler Tag bei uns hier draußen/der Briefträger, ein Traktor, und aus“, heißt es da.

Sehr viel mehr ist noch immer nicht los in der Thiérache, doch wer mit offenen Augen durch die bukolische Landschaft mit Weiden, Kuhherden und Apfelbäumen fährt, erlebt Spektakel genug: Hauptattraktion sind Wehrkirchen, die aus der Zeit stammen, als das nahe Belgien von den spanischen Habsburgern beherrscht wurde. Das sanft hügelige Land, durch das sich der Fluss Oise schlängelt, war für die Truppen Karls V. ein Einfallstor nach Frankreich, immer wieder zogen marodierende Söldner durchs Land. Die geplagte Bevölkerung baute die Kirchen zu Trutzburgen aus, in denen Vieh und Mensch Platz hatten. Backöfen und Brunnen in den Kirchen ließen die wehrhaften Dorfbewohner auch längeren Belagerungen standhalten. Im besonders stattlichen Bau von Plomion erinnert ein Plakat an die Belagerung durch spanische Truppen 1651.

Kirchen als Bollwerk

Wer nur kurz Zeit hat, sollte nach Parfondeval fahren, das zum exklusiven Club der „schönsten Dörfer Frankreichs“ zählt. Die Kirche des adretten Backsteindorfs ist ein Juwel mit einem Renaissanceportal. Auch das nahe Jeantes lohnt einen Abstecher: In den 1960ern hatte das Dorf einen kunstsinnigen niederländischen Pfarrer, der den befreundeten Maler Charles Eyck um ein Wandgemälde für die recht heruntergekommene Kirche bat. Der Maler versprach ein zwei Quadratmeter großes Fresko, verfiel jedoch in schöpferische Ekstase und malte den 400 Quadratmeter großen Innenraum komplett aus.

Hauptort des Landstrichs ist Vervins, wo mit dem „Démocrate de l’Aisne“ eine der bemerkenswertesten Zeitungen Frankreichs ihren Sitz hat. „Unser Herausgeber hat den Anrufer für einen Telefonscherzbold gehalten und gleich wieder aufgelegt“, erzählt Journalistin Eleonore Dufrenois lachend von dem Tag, als der kleinen Redaktion ein Preis als „Presse der Zukunft“ verliehen wurde. Die Skepsis des Herausgebers ist nachvollziehbar: Der „Démocrate“ ist die letzte Zeitung der Welt, die noch im Bleisatz gedruckt wird. Von 1927 stammt die Linotype-Maschine, die unverdrossen ihren Dienst tut. Ein Duft nach Maschinenöl und Druckerschwärze erfüllt den einstigen Pferdestall der Gendarmerie, in dem zwei Journalisten, zwei Drucker und drei Setzer Woche für Woche in althergebrachter Handarbeit eine Zeitung produzieren, die man getrost Weltblatt nennen darf: Selbst in Chile und Australien hat der „Démocrate“ treue Abonnenten, auch in der Umgebung stirbt die Leserschaft nicht aus. Enkel haben die Abos ihrer Großeltern übernommen, die Zukunft der traditionsreichen Zeitung ist gesichert, auch wenn man nur das Türschild austauschen müsste, um den Ort zum Museum zu erklären.

Tatsächlich sind auch die Museen in der Gegend erstaunlich lebendige Orte: Als „Ecomusée de l’Avesnois“ haben sich vier Museen am Nordrand der Thiérache zusammengetan, um das reiche industrielle Erbe wenn schon nicht am Leben, so doch in Erinnerung zu halten. Fourmies etwa war einst die Welthauptstadt des Wollfadens. 1825 eröffnete dort die erste Spinnerei, bald waren es 32, die Bevölkerung hatte sich verachtfacht. Die Spinnmaschinen des Museums waren von 1863 bis 1978 in Betrieb und werden heute noch bei Führungen angeworfen. Gut, dass seither genug Zeit zum Lüften war: Sechs Tonnen Kohle verschlang die große Dampfmaschine täglich, dazu kam der Gestank ungewaschener Schurwolle, die aus Neuseeland oder Südafrika via Amsterdam und Lille per Bahn geliefert wurde. So unerträglich wie der Geruch, der einst über Fourmies gelegen sein muss, waren die Lebensbedingungen: Siebenjährige Kinder arbeiteten an sechs Tagen die Woche zehn Stunden, Erwachsene fünf Stunden länger. 1891 demonstrierten die Arbeiter für anständigere Behandlung. Die Armee schoss in die Menge, vier Frauen und ein Kind waren unter den neun Toten. „Im kollektiven Gedächtnis der Arbeiterbewegung hat Fourmies einen besonderen Platz“, erklärt Murielle Herderich im Museum. In den Achtzigern schloss die letzte Spinnerei von Fourmies.

Arbeiterrechte und Wohnraum

Eine auf einer alten Bahntrasse angelegte Radroute führt nach Guise, in die größte Stadt der Region. Hier hatten die Herzöge von Guise ihre Burg, im 19. Jahrhundert wurde die Stadt Zentrum der Schwerindustrie. Im Ersten Weltkrieg wurde die Burg bis auf immer noch sehenswerte Reste zerstört. Von der Eisenindustrie ließen die Krisen des 20. Jahrhunderts wenig übrig.

Geblieben ist eine bewohnbare Utopie: Der Industrielle Jean-Baptiste André Godin, der Öfen produzierte, setzte hier Theorien des Gesellschaftstheoretikers und utopischen Sozialisten Charles Fourier in die Praxis um: Er ließ die Arbeiter am Reichtum, den sie produzierten, teilhaben. Für seine Standesgenossen waren Godins Aktivitäten der reinste Horror: Godin erhöhte die Gehälter regelmäßig und verkürzte die Arbeitszeit für Erwachsene auf maximal zehn Stunden am Tag, für Kinder galt Schulpflicht. Er ließ helle, luftige Wohnhäuser für Arbeiter errichten, mit fließendem Wasser und überdachten Innenhöfen. Diese „Familistère“ hatte ein Theater und Schulen. Und schließlich gab Godin die Macht ab: Entscheidungen wurden nicht vom Eigentümer gefällt, sondern in einer Generalversammlung – bei der auch Frauen Stimmrecht hatten. Das 1880 begonnene Experiment lief jahrzehntelang erfolgreich. Ausgerechnet 1968 endete es abrupt. Das Unternehmen wurde von der Konkurrenz übernommen, verkauft, die Gesellschaft aufgelöst. Doch nach wie vor wohnen Menschen im Familistère, Theater und Schule sind noch da – ganz so, als würde der Komplex nur darauf warten, dass einer das Experiment weiterführt.

Frankreichs unbekannter Nordosten

Käse kosten: Den Maroilles von Claire Halleux im Hofladen der Ferme de la Fontaine Orion, 1 rue Hurtebise, Haution

Zeitung lesen: „Démocrate de l’Aisne“: Redaktion und Druckerei befinden sich im Zentrum von Vervins, 2 rue Dusolon

Industriegeschichte erleben: Im Écomusée de l’Avesnois an vier Standorten: Fourmies, Trelon, Felleries, Sains-du-Nord. www.ecomusee-avesnois.fr

Gegend abradeln: Karten und Beschreibungen zur Radroute zwischen Hirson und Guise: http://www.af3v.org/ (auch auf Deutsch abrufbar)

Utopie nachvollziehen: Geführte Besichtigungen des Familistère in Guise, www.familistere.com

Wohnen: Le chateau in Eparcy ist kein Schloss, aber großbürgerlicher Landsitz. Fürstliche Betreuung durch Yves und Isa-belle. Tolles Frühstück, auf Wunsch Dinner. Le chateau/chambres d’hôte in Eparcy. www.le-chateau-eparcy.com

Henri IV., Charles de Gaulle und François Mittérrand waren Gäste im mittelalterlichen Schlösschen in Vervin. Mit dem Restaurant La Tour du Roy: latourduroyvervins.appspot.com

Infos: Touristinfo in Vervins hat Material zu Rundfahrten und Wehrkirchen. www.tourisme-thierache.frwww.atout-france.fr

Compliance: Die Recherche wurde von der Region unterstützt. 

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