Schnell noch, bevor der Winter vorbei ist und das 250-Jahr-Jubiläum so richtig losgeht, ein literarischer Winter-Spaziergang im Wiener Prater vor vier Jahren:
Als hätte jemand vor dem Gehen vergessen, das Radio abzuschalten, plärrt billiger Disco-Pop durch menschenleere Gassen. Das Herbstlaub wurde schon länger nicht gekehrt. Fast trotzig dreht sich eine überdimensionale «wilde Maus» aus buntem Plastic vor dem Gerüst einer Achterbahn, die ohne das übliche Gekreische und Gerattere ziemlich nackt dasteht, ganz so wie die Meerjungfrau – oder ist’s ein Donauweibchen? – auf dem morastigen Grund des leeren Betonbeckens daneben. Eine bunt blinkende Anzeigentafel lässt den hartnäckigen Novembernebel noch schmutziger grau aussehen. Phantasie-Monster aus Kunststoff, die sonst zum Lachen oder Gruseln anregen sollen, lagern hinter Bauzäunen, in ihre Bestandteile zerlegt. Nur die Pferdchen des altehrwürdigen Pony-Karussells stapfen, von den frostigen Temperaturen unbeeindruckt, im Kreis, auch wenn kein einziger der sonst Schlange stehenden kleinen Fahrgäste zu sehen ist.
Es sieht ziemlich gespenstisch aus im spätherbstlichen Wiener Prater. Ein Katastrophenfilm über das plötzliche Verschwinden der Menschheit könnte hier gedreht werden, in dem ein einzelner Spaziergänger den versehentlich Übriggebliebenen darstellt. Die gute alte Geisterbahn gewinnt vor dieser Kulisse an düsterer Anziehungskraft, doch auch das plötzlich hinter mir losdröhnende Gedudel eines Punchingballs sorgt für einen ausreichenden Adrenalinstoss.
Gut so, immerhin ist aus der eigentlich geplanten Gespenstersuche im Spiegelkabinett nichts geworden. «en jeda / brodaschbiaglgalarii / bast hinta dia / schdüü das d nix meaxt / a schlechta deifö / auf dei oame söö», dichtete 1958 H. C. Artmann, «in jeder/ praterspiegelgalerie / lauert hinter dir / still, dass du es nicht merkst / ein schlechter teufel / auf deine arme seele». Wahrscheinlich friert der arme Teufel mit seinen haarigen Krallen («med seine hareng gräun») zwischen November und März ziemlich allein zwischen all den Spiegeln – die haben nämlich Winterpause. Der alte Mephisto, der es auf dem Blocksberg bekanntlich «so lustig wie im Prater» findet, dürfte im Sommer das letzte Mal hier gewesen sein.
Was machen im Winter eigentlich die Nachkommen von Artmanns zumindest in Österreich weltberühmtem «ringlgschbüübsizza» (Ringelspielbesitzer)? Dieser prahlt damit, sieben Frauen zu Musikbegleitung zerstückelt und unter dem Schlafzimmerboden vergraben zu haben, was sich im scheinbar gemütlichen Wiener Dialekt ungleich drastischer anhört: «i bin a ringlgschbüübsizza / und hob scho sim weiwa daschlong / und eanare gebeina / untan schlofzimmabon fagrom [. . .]»
Im November haben heutige Jahrmarkt-Unternehmer kaum Energie für kraftraubende nächtliche Aktivitäten: Herr Kern etwa, der honorige Betreiber des «Dampf-Carousels» aus dem 19. Jahrhundert, kann auf die Frage nach Zeit für Hobbys in den stillen Wintermonaten nur lachen: Ferien gingen sich nach den dringendsten Wartungsarbeiten und dem Einwintern von Karussell, Wildalpenbahn und Autodrom zwar schon aus, doch im Februar beginnt bereits wieder die Vorbereitung für eine Saison, während deren an sieben Tagen pro Woche von früh bis spät gearbeitet wird.
Die finsteren Nachkriegsjahre, von denen Artmann oder auch der regelmässige Prater-Besucher Helmut Qualtinger auf ihre Weise zehrten, sind heute gründlich vorbei. Ein Hauch schwarzer Rummelplatzromantik mag noch in der Luft liegen, ein klein wenig Verruchtheit beim Messegelände, wo bereits am ohnehin nicht helllichten Herbstnachmittag die ersten Prostituierten am Strassenrand frieren. Abseits des Vergnügungsparks macht der Prater heute aber einen biederen Eindruck: Jogger, Radfahrer, Hundebesitzer und Familien mit kleinen Kindern bevölkern auch bei Nebel und herbstlicher Feinstaub-Warnung die Hauptallee, die weitläufigen Wiesen und die modernen Spielplätze des ehemaligen habsburgischen Jagdreviers, eines von Nebenarmen der Donau durchzogenen Au-Gebiets von sechs Quadratkilometern.
Erst weit draussen in Richtung des heute längst regulierten und eingedämmten Donaustroms, jenseits der Autobahnbrücke, die den «grünen» Teil des Praters in zwei Hälften teilt und im gesamten Park für ein stetiges dumpfes Hintergrundgrollen sorgt, zeugen Pferdegespanne und vereinzelte Reiter von längst verblasster Tradition. Hier draussen, bei der selbst in ihrem Verfall noch prunkvollen Galopprennbahn, kann man sich vorstellen, dass die von Ferdinand I. im Jahr 1537 angelegte Hauptallee des Praters einmal das Wiener Pendant der Champs-Elysées war. Nachdem der aufgeklärte Monarch Joseph II. die kaiserlichen Jagdgründe 1766 dem Volk geöffnet hatte, siedelten sich Kaffeesieder und Hanswurst-Bühnen im Prater an, denen der als «Wurstelprater» bekannte Vergnügungspark seinen Namen verdankt. Die über vier Kilometer lange Kastanienallee, die vom Verkehrsknotenpunkt Praterstern zu einem Jagdpavillon bzw. «Lusthaus» führt, wurde zum öffentlichen Laufsteg der Kaiserstadt. Von den Terrassen eleganter Kaffeehäuser, in deren Sälen Beethoven, Lanner und Strauss Konzerte gaben, hatte man freie Sicht auf die Kutschen, die sich auf ihrem Weg zum Lusthaus oft zu Hunderten stauten.
Heute liegt die Hauptallee, an der nichts mehr an die aristokratisch-grossbürgerliche Vergangenheit erinnert, im Schatten des volkstümlichen Wurstelpraters, damals war es umgekehrt. Über tausend blumengeschmückte Kutschen fuhren jeden ersten Mai die Prachtstrasse hinunter. Der Berufsbohémien Peter Altenberg verewigte die «feenhafte Welt» der «fliegenden Blumenbeete» in einer seiner filigranen Prosaskizzen. An deren Ende landet eine erbärmlich stinkende künstliche Rose in der Vase eines Strassenkehrers, der sie trotz den Protesten seiner Tochter nicht wegwirft – stammt sie doch «vom Blumenkorso – – –!».
Das Geld zur Demontage fehlte
Hinter dem Jahrmarktgelände liegen unberührt wirkende Auwälder, Alt-Arme der Donau, die in kalten Wintern zahlreiche Eisläufer anlocken, und die «dunklen weiten Wiesen», in denen Altenbergs unvorsichtige Protagonistinnen in den Sommernächten vergassen, dass «man in jedem Augenblicke schwanger werden und verlassen werden könnte». Hier trafen sie auf Arthur Schnitzlers Personal, seinen suizidgefährdeten Leutnant Gustl oder den Soldaten, der im 1897 entstandenen «Reigen» ein Stubenmädchen in einer dunklen Allee verführt, um danach zur Polka mit einer anderen in den Wurstelprater zurückzukehren.
Erst 1921 konnten die zehn Dialoge des «Reigen», die die biologische Mechanik hinter der Verführung schonungslos blosslegen, auf der Bühne gezeigt werden. Wüste antisemitische Pressekampagnen und ein Aufführungsverbot waren die Folge. Die Glanzzeit der Hauptallee war da schon genauso dahin wie die Donaumonarchie, deren Lebensgefühl die Autoren der Wiener Moderne verewigt hatten, mit dem Prater als wichtigem Schauplatz. Paradoxerweise war es die desperate wirtschaftliche Lage der Ersten Republik, die das heutige Wahrzeichen des Praters für die Nachwelt rettete: Das 1897 am Rande der künstlichen Lagunenlandschaft «Venedig in Wien» errichtete, 65 Meter hohe Riesenrad sollte eigentlich nach einigen Jahren wieder abgebaut werden – nur fehlte inzwischen das Geld für die Demontage. 1944 brannte das Rad nach einem Luftangriff auf das zur «Perle des deutschen Reiches» gewordene Wien. Den restlichen Vergnügungspark und sämtliche Gebäude der Hauptallee vernichtete der «grosse Praterbrand» ein Jahr darauf.
Nicht nur Staatsoper und Stephansdom wurden nach dem Krieg in kürzester Zeit wieder aufgebaut, sondern auch das Riesenrad. Es ist die einzige Attraktion des Praters, die heute noch das «leichtlebige Wien des Walzertraums» verkörpert, das der Erzähler von Graham Greenes «Third Man» nicht gekannt haben will. In Carol Reeds Verfilmung des Romans erklärt Orson Welles in der Rolle des Schurken Harry Lime vom höchsten Punkt des Riesenrads aus seine Sicht auf eine Welt, in der die Menschen bloss kleine bewegliche Punkte sind und die Schweizer Demokratie als einzige Leistung in fünfhundert Jahren die Kuckucksuhr hervorgebracht hat.
Noch immer ist der Blick aus einer der Kabinen erhebend, freilich schreibt man etwaige Liebesschwüre heute nicht mehr dezent wie Harry Lime mit dem blossen Finger auf eine angelaufene Glasscheibe, sondern erledigt das per Kugelschreiber direkt an der Holzwand. Die menschlichen Punkte wuseln geschäftig wie im Film über den neuen Pratervorplatz, der eine Art globalisiertes Alt-Wien aus Gipskarton darstellt. Die originale imperiale Pracht der umliegenden Strassen, im «Dritten Mann» in Trümmern zu bewundern, ist nicht wiederhergestellt worden.
Die Rückseite der Stadt
Das Viertel war einst der bedeutendste Verkehrsknotenpunkt der Hauptstadt und Zentrum des jüdischen Wien. Es wurde nach den ästhetischen Massstäben der Nachkriegs-Sachlichkeit, die für die repräsentativen Bahnhöfe, Theater und Kaffeehäuser aus Kaisers Zeiten nichts mehr übrig hatte, neu aufgebaut und seither mehrmals – nicht immer glücklich – umgestaltet. Schöner ist der Blick auf das Riesenrad daher wohl nicht nur im Spätherbst von der Rückseite, vom finsteren äusseren Rand des Wurstelpraters, wo die Punchingbälle dudeln, sich die Prostituierten quer über die Strasse Unverständliches zurufen und die Sonne gegen vier Uhr nachmittags doch unsagbar prächtig hinter der verwunschenen Kulisse des Praters untergeht.
Sehr schön geschrieben, ich war förmlich dabei..
Danke, freut mich! Für nicht-virtuelle Besuche empfehle ich aber den Frühling…