Gerettet und entführt

Gerettet und entführt: Ein online leider nicht zugänglicher Falter-Artikel (erschienen in Ausgabe 36/09). Offenbar beginnt man sich nun auch in Österreich wieder an die Affäre zu erinnern: Hier ein Eintrag im Gedenkbuch der Universität Wien aus dem Jahr 2012.

Nachtrag Dezember 2012: Die im Artikel genannte Ungerechtigkeit könnte tatsächlich – fast 67 Jahre nach Kriegsende – behoben werden. Mehr dazu hier im Standard.

 

Gerettet und entführt

Zwei österreichische Kinder standen im Mittelpunkt eines der größten französischen Justizskandale der Nachkriegszeit. Was uns das heute angeht.

Februar 1953, in den französischen Pyrenäen. Ein bärtiger Schafhirte stapft durch knietiefen Schnee, zwei frierende, nur leicht bekleidete Knaben ihm hinterher. Auch ein Dorfpfarrer aus dem französischen Teil des Baskenlandes ist mit von der Partie. Immer wieder nimmt er den jüngeren der vor sich hin weinenden Buben auf die Schultern. Nach einem langen Marsch ist die Staatsgrenze erreicht, auf spanischem Gebiet nehmen baskische Mönche die erschöpften Kinder in Empfang und bringen sie getrennt in entlegene Bergdörfer. Monatelang bleiben Robert und Gérald, zehn und elf Jahre alt, wie vom Erdboden verschwunden, während die französische Justiz fieberhaft nach ihnen sucht. Es handelt sich um die spektakulärste Kindesentführung der französischen Nachkriegsgeschichte. Was uns daran interessieren könnte: Die Kinder sind Österreicher.

Im Herbst 2008 standen sie dank der Verfilmung ihrer Lebensgeschichte neuerlich im Fokus der französischen Medien. Bereits 1953 hatte ihr Schicksal ganz Frankreich bewegt – und gespalten, ähnlich wie die Dreyfus-Affäre fünfzig Jahre zuvor. In Österreich weiß man heute hingegen so gut wie nichts über sie. Robert und Gérald sind die Söhne des jüdischen Wiener Ehepaares Anny und Fritz Finaly, das nach dem Anschluss 1938 über die Tschechoslowakei nach Frankreich floh. In Grenoble kam 1941 Robert, 1942 Gérald zur Welt. Kurz nach seiner Geburt besetzten deutsche Truppen das bis dahin „frei“ gebliebene Südfrankreich. Zehntausende Juden aus ganz Europa saßen in der Todesfalle. Anfang 1944 erreichte die Welle der systematischen Verhaftungen den Raum Grenoble.

Rettung im letzten Augenblick…

Anny und Fritz retten ihre kleinen Söhne, indem sie sie ihrer Zimmerwirtin Madame Poupaert anvertrauen. Einen Koffer mit Habseligkeiten sowie die Adressen der drei Schwestern Fritz Finalys geben sie den Kindern noch mit. Vier Tage später werden sie von der Gestapo verhaftet, über das französische Sammellager Drancy nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Die Umstände ihres Todes sind nicht bekannt. Anny und Fritz Finaly werden erst 1950 offiziell für tot erklärt.

Aus Angst vor der Gestapo übergibt Madame Poupaert die Kinder den katholischen Ordensschwestern von Notre-Dame de Sion. Die Oberin des Ordens beauftragt die Leiterin der städtischen Kinderkrippe, Antoinette Brun, mit der Obhut über die Brüder. Auf einem abgeschiedenen Schloss versteckt die glühende Katholikin Robert, Gérald und sechs weitere jüdische Kinder und rettet ihnen dadurch das Leben. Im Februar 1945, Frankreich ist längst befreit, bekommt Antoinette Brun Post von einer der Schwestern Fritz Finalys. Die nach Neuseeland emigrierte Margarete Fischl hat vom Los ihres Bruders und der Rettung ihrer Neffen erfahren und will die Waisen bei sich aufnehmen.

… und Entführung auf Geheiß des Vatikans

Antoinette Brun hält die jüdische Tante auf der anderen Seite des Erdballs drei Jahre lang hin. Entnervt bittet Margarete Fischl schließlich ihre in Israel lebende Schwester Judith Rosner um Hilfe. Diese reist nach Frankreich, doch man verwehrt ihr den Kontakt zu ihren Neffen. Es kommt zum Prozess. Antoinette Brun lässt die Kinder 1948 taufen, drei Jahre nach Kriegsende.

Das erschwert die Lage der Familie erheblich. Der Vatikan gab den französischen Bischöfen nach dem Krieg die Anweisung, getaufte jüdische Kinder keinesfalls an Institutionen oder Personen zu übergeben, die ihre christliche Erziehung nicht garantieren können oder wollen. Die Taufe, auch wenn sie im Nachhinein stattfand, macht die katholische Kirche zur mächtigen Gegenspielerin der Familie Roberts und Géralds. Diese werden nicht nur von ihren jüdischen Verwandten ferngehalten, sondern auch streng katholisch und antisemitisch erzogen. Ihnen wird eingeredet, die Juden – „Jesus‘ Mörder“ – wollten sie entführen. Von der Existenz ihrer Familie und deren verzweifeltem Kampf um das Sorgerecht ahnen sie nichts. Während sich der Prozess von Instanz zu Instanz dahinschleppt, werden die Brüder unter wechselnden Identitäten von Kloster zu Kloster gebracht, in die Schweiz, nach Italien, zurück nach Frankreich und schließlich nach Spanien – stets unter dem Schutzmantel der katholischen Kirche.

Erst 1953, nach einem höchstgerichtlichen Urteil zugunsten der Familie, langwierigen Geheimverhandlungen und unter der Bedingung der Rücknahme aller Klagen gegen Vertreter der katholischen Kirche, werden Robert und Gérald aus Spanien zurückgeholt und ihrer Tante übergeben. Neun Jahre nach der Trennung von den Eltern, acht Jahre nach Kriegsende, ihrer Familie und ihren Wurzeln völlig entfremdet. Die schwierige Integration der Brüder in ihre Familie und die neue Heimat Israel gelingt, die beiden verbringen eine „normale“ Jugend, gründen Familien. Robert wird Arzt wie einst sein Vater.

Leerstelle Österreich

„Wir sind Teil der jüdischen und Teil der französischen Geschichte“, sagte Robert Finaly anlässlich der Präsentation eines Fernsehfilms über seine und Géralds Kindheit im November 2008 im Gespräch mit Le Monde. Das stimmt wohl, sollte es aber nicht. Die Familie Finaly ist auch Teil der österreichischen Geschichte. Die Eltern lebten bis zu ihrer Vertreibung in Wien, Praterstraße 25. Eine Tafel erinnert an die „24 jüdischen Frauen und Männer“, die vor dem Holocaust dort wohnten.

Österreich fühlte sich nach dem Weltkrieg für die Kinder der Ermordeten nicht zuständig. Offizielle Stellungnahme zu dem Fall gab es keine, österreichische Zeitungen machten aus ihren Sympathien für die katholischen Kindesentführer keinen Hehl: „Hat sie [Antoinette Brun] nicht ein Recht auf diese Kinder, auch wenn sie nicht die eigenen sind?“ fragte die Presse am 22. Februar 1953, kurz nach Bekanntwerden ihres Verschwindens.

Auch heute noch erkennt Österreich im Ausland geborene Kinder Vertriebener nicht als Staatsbürger an. Mit ihrem Antrag auf eine diesbezügliche Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes stehen die Grünen derzeit allein auf weiter Flur. Das Paradoxe an dieser Situation zeigt stellvertretend für viele andere der Fall Finaly: Für Robert beantragten seine Eltern die französische Staatsbürgerschaft, bei Gérald war dies nicht mehr möglich. Gérald Finaly war für die französische Verwaltung Österreicher, obwohl er zu einer Zeit geboren wurde, in der dieser Staat nicht existierte. Vertriebene und ihre Kinder verkörperten Österreich, als dieses Land von allen Karten verschwunden war und das bloße Wort „Österreich“ dort nicht einmal ausgesprochen werden durfte. Die wiedererrichtete Republik dankte es ihnen nicht. Sie inszenierte sich lieber selbst in der Opferrolle, anstatt die tatsächlichen Opfer zurückzuholen. Man hat es verabsäumt, die Geschichte der Vertriebenen in die Erfolgsstory der Zweiten Republik zu integrieren, deren Opfermythos nicht umsonst längst zerbröselt ist.

Eine Restitution der österreichischen Staatsbürgerschaft an die Vertriebenen und ihre Kinder würde den Betroffenen wohl höchst Unterschiedliches bedeuten. In jedem Fall ist sie eine längst überfällige Bringschuld Österreichs.

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