Chemin des Dames – Besuch auf dem Schlachtfeld

Vom süßen und vom ehrenvollen Sterben

Da die Prinzessinnen Adélaïde und Victoire am Ende des 18. Jahrhunderts ihre alte Gouvernante gelegentlich im Château de la Bove nordöstlich von Paris besuchen wollten, wurde der holprige Anfahrtsweg über eine Hügelkette für die königliche Kutsche neu gepflastert. Die Hügel tragen seither den charmanten Namen „Damenweg“, Chemin des Dames. Die beiden Töchter Ludwigs des Fünfzehnten, die auf ihrer Flucht vor Revolution und Guillotine wenig später noch viel beschwerlichere Wege zurücklegen sollten, gerieten bald in Vergessenheit. Der Name Chemin des Dames blieb dem Gebiet erhalten.

Die Gegend ist so reizvoll wie ihr Name. Der Blick auf die bewaldeten Hügel tut dem Auge nach zermürbender Fahrt durch monotone Ebenen gut, kleine Dörfer liegen idyllisch an den Hängen, verwitterte Straßenschilder warnen vor Rutschgefahr durch Zuckerrüben auf der Fahrbahn. Sieht man genauer hin, erkennt man Einschusslöcher in den wenigen erhaltenen alten Mauern der größtenteils rekonstruierten Dorfkirchen. Vor ziemlich genau 90 Jahren blieb hier sprichwörtlich kaum ein Stein auf dem anderen. Der Chemin des Dames war 1917 eines der mörderischsten Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs.

Sinnloses Massensterben vor der Drachenhöhle

Das strategische Interesse des Platzes ist offensichtlich. Vom Kamm aus dominiert man das umliegende Flachland der Champagne, der Picardie und der Ile de France. Bei ihrem steckengebliebenen Angriff auf Frankreich zu Beginn des Krieges brachten die Deutschen die Hügel unter ihre Kontrolle. Alte Forts aus dem 19. Jahrhundert wurden wieder instandgesetzt, eine Zuckerraffinerie zur überirdischen, ein alter Steinbruch zur unterirdischen Festung ausgebaut, „Drachenhöhle“ genannt. Ausgerechnet hier wollte der französische Oberkommandierende General Nivelle im April 1917 die deutsche Front durchbrechen und damit den Krieg innerhalb von 48 Stunden beenden. Eine Million Soldaten und die größte Konzentration an Kanonen des ganzen Krieges sollten die Deutschen aus Zuckerfabrik und Drachenhöhle vertreiben. Tagelanges Artilleriefeuer, Regen und Schneefall hatten das Gelände, das die französischen Soldaten bei ihrem Sturmangriff überwinden mussten, in eine schlammige Mondlandschaft verwandelt. Die deutschen MG-Stellungen waren jedoch intakt geblieben. An die 200.000 Franzosen fielen beim erfolglosen Angriff auf die deutschen Befestigungsanlagen. Aufstände in der französischen Armee waren die Folge. Hunderte Todesurteile wurden gefällt, der Großteil davon in lange Haftstrafen umgewandelt. Bei 49 willkürlich ausgewählten Soldaten verhinderte General Pétain, Sieger von Verdun und neuer Chef der französischen Armeen, die Begnadigung. Im Oktober 1917 gelang durch die Schlacht von Malmaison die vorübergehende Rückeroberung des Chemin des Dames.

Lebendige Erinnerung

Ein sinnloses Gemetzel zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, ist das nicht Schnee von gestern? Nicht in Frankreich, und nicht im Herbst 2007. Auf dem Weg zur Drachenhöhle, die heute ein Museum beherbergt, bin ich an einem sonnigen Oktobersonntag zufällig im Dorf Vailly sur Aisne zu einer martialisch wirkenden Gedenkveranstaltung auf dem Soldatenfriedhof zurechtgekommen. Reden wurden gehalten, moderne Soldaten und solche in Originaluniformen des Ersten Weltkriegs paradierten, Veteranen marschierten mit Fahnen auf, man sang die Marseillaise. Was man genau feiert? „Den Sieg vom Oktober 1917“, antwortet mir ein mit Orden üppig behängter Festteilnehmer. Das Gedenken an die Schlacht vor 90 Jahren ist für das Dorf ein Volksfest, die Stimmung heiter und nachdenklich zugleich. Nach der Zeremonie gibt es Wein und Kekse, die Fahnen werden eingerollt, man posiert mit den Darstellern der historischen Soldaten, lässt sich die Rangabzeichen auf den Uniformen erklären und fachsimpelt über die unpraktischen Wickelgamaschen. Über den Krieg sprechen die Bewohner von Vailly, als wäre er erst vor kurzem zu Ende gegangen. Eine kleine Gruppe diskutiert hitzig über General Nivelle, der die Niederlage vom Frühling 1917 zu verantworten hat. Dass der nie zur Verantwortung gezogen wurde, während die füsilierten Soldaten heute noch immer nicht offiziell rehabilitiert sind, empört die Gruppe. Es habe sich nämlich nicht um einen Aufstand gehandelt, sondern um einen Streik. Die Befehlsverweigerer hätten sich nicht geweigert, das Land zu verteidigen, sondern sich für eine militärisch sinnlose Offensive zu opfern. Mir fehlen die Detailkenntnisse, um mitreden zu können, doch mich berührt die Ernsthaftigkeit, mit der die Bewohner des Dorfes die 90 Jahre zurückliegenden Ereignisse verstehen wollen. Viele Männer haben Kriegsmedaillen und Orden an die Anzüge geheftet, auf den meisten steht „Algerien“. Man ist stolz auf das Dorf, in dem während des Weltkriegs tausende Verletzte medizinisch erstversorgt wurden, auf die Leistungen der Urgroßeltern, die das in Trümmern liegende Vailly wieder aufgebaut haben, und vor allem natürlich auf die siegreichen Poilus, die „Behaarten“, wie man in Frankreich die Soldaten des Ersten Weltkriegs nennt, die sich in den Gräben nicht rasieren konnten und entsprechend bärtig von der Front zurückkamen.

Jonathan, ein 17-jähriger Schüler, erzählt von seinem Ururgroßvater. Der war bei Kriegsausbruch gleich alt wie er heute und hat drei Jahre in den Schützengräben aller möglichen Schlachtfelder überlebt. Am 23. Oktober 1917, mit 20 Jahren, starb er am Chemin des Dames im deutschen Maschinengewehrfeuer. Jonathans Vater hat die Geschichte des Vorfahren erst vor wenigen Jahren erforscht, gemeinsam haben sie die vielen Soldatenfriedhöfe der Gegend nach dem Grab abgesucht und es letztendlich gefunden. Jonathan ist stolz auf seinen jungen Urahnen, der für Frankreich gefallen ist.

Ich kenne in Österreich niemanden, der stolz auf den Heldentod eines seiner Vorfahren für Kaiser, Gott und Vaterland ist. Oft habe ich den Eindruck, das besiegte Kaiserreich hat mit der Zweiten Republik in etwa so viel zu tun wie das Reich der Pharaonen mit dem heutigen Ägypten: Die architektonischen Zeugnisse dieser Zeit lassen sich touristisch vermarkten, doch die Menschen, die sie erbaut haben, sind schon längst nicht mehr da.

In Frankreich ist die Epoche des Ersten Weltkriegs viel näher. Der Krieg bedeutete für die siegreiche Republik nicht den gleichen Bruch wie für die nach ihrer Niederlage zerteilte Habsburgermonarchie, die Nachkriegszeit war nicht von Elend und Bürgerkrieg geprägt, am Trauma des Zweiten Weltkriegs muss man sich nicht im selben Ausmaß abarbeiten wie im Land der Täter.

Makabrer Wettlauf der Sterbenden

Vielleicht ist es in Frankreich deswegen möglich, den entsetzlichen Spruch „Dulce et decorum est pro patria mori/ Süß und ehrenvoll ist’s, fürs Vaterland zu sterben“ auf eine Säule inmitten eines Soldatenfriedhofs zu schreiben. Ich glaube nicht, dass das in Österreich ginge. Größere Sensibilität oder größere Wurstigkeit? Für uns beginnt am 11. November der Fasching. In Frankreich ist der Jahrestag des Waffenstillstands von 1918 ein staatlicher Feiertag mit Militärparade auf den Champs Elysées. Die Zeitungen und Magazine widmen sich alljährlich Anfang November ausführlich dem Krieg und der Erinnerung daran. Vor knapp zehn Jahren löste der damalige Premierminister Lionel Jospin eine Polemik aus, indem er die offizielle Rehabilitation der Soldaten forderte, die den süßen Tod beim Angriff auf die Zuckerfestung des Chemin des Dames verweigerten. Jospin wurde damals rasch zurückgepfiffen, die Zeit sei noch nicht reif für eine Entscheidung dieser Tragweite. Von außen betrachtet mag das absurd wirken, zeigt aber auch die immense Bedeutung, die die Pflege des nationalen Gedächtnisses in Frankreich hat. Die Erinnerung ist zerbrechlich und verschwindet schnell, wenn man nicht auf sie achtgibt. Man muss sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit erneuern“, sagte der Staatssekretär für Kriegsveteranen im Frühjahr 2007 bei einer Gedenkfeier am Chemin des Dames. Auf Fragen nach den Aufständen wollte er jedoch nicht eingehen, um, wie er sagte, Polemiken zu vermeiden. Derzeit ist die Rehabilitation der 49 Füsilierten kein Thema.

Zwei Veteranen des Ersten Weltkrieges leben heute noch in Frankreich: Lazare Ponticelli, der den Gebirgskrieg Italiens gegen Österreich-Ungarn mitgemacht hat, und Louis de Cazenave, einer der Überlebenden des Chemin des Dames. Beide wurden 1897 geboren, im gleichen Jahr wie Jonathans vor 90 Jahren getöteter Ururgroßvater. Heute befinden sich die beiden Greise in einem makabren Wettlauf: 2005 hat Staatspräsident Chirac ein Staatsbegräbnis für den letzten Poilu Frankreichs dekretiert. Sein Leichnam soll nach feierlicher Zeremonie im Invalidendom beigesetzt werden. Was im Fall von Louis de Cazenave nicht ohne Pikanterie wäre: General Nivelle, der Verantwortliche für die Schlacht am Chemin des Dames, hat dort schon ein Ehrengrab.

Georg Renöckl

(erschienen in Literatur und Kritik421/422 (März 2008) unter dem Titel Chemin des Dames – Besuch auf dem Schlachtfeld

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