So ein schöner Titel, und gar nicht von mir! Danke an Redakteurin Madeleine Napetschnig, normalerweise ärgert man sich ja über die Änderungen, hier einmal nicht. Hier ein Bericht über eine wirklich beeindruckende Baustelle, div. Adressen und Jo Pesendorfers wie immer wunderschöne Fotos gibt es dort auch, hier unten nur Text.
Die neuen Eingeweide (Magen, Herz, Lunge) von Paris werden jedenfalls vor allem eines: grün!
Die Innereien von Paris
29.11.2012 | 14:32 | von Georg Renöckl (Die Presse – Schaufenster)
Ein radikaler Umbau soll das Viertel um den ehemaligen „Ventre de Paris“ zum neuen Herzen der Stadt machen, grüne Lunge inklusive. Ein Streifzug durch das Baustellenumfeld.
Seit dem Vorjahr baut Paris wieder einmal an einem Prestigeprojekt, das den Rest der Welt staunen lassen soll. Eine knappe Milliarde Euro lässt sich die Stadt einen tiefgehenden Eingriff in eine ihrer sensibelsten Regionen kosten. Nichts Geringeres als die völlige Neugestaltung des von Émile Zola einst als „Bauch von Paris“ beschriebenen Hallenviertels steht auf dem Programm.
Der Nabel der Stadt ist das Grätzel seit Jahrhunderten: Bereits 1137 war hier der zentrale Pariser Markt angesiedelt. Während der Französischen Revolution wurde er um das Gebiet des ältesten Friedhofs der Stadt erweitert. Napoleon III. ließ Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Marktgelände zwölf elegante Hallen aus Gusseisen und Glas errichten, von deren Pracht leider nur die nostalgische Erinnerung geblieben ist: Georges Pompidou, der konservative Modernisierer im Präsidentenpalast, ließ die Belle-Époque-Kunstwerke trotz heftiger Proteste Anfang der Siebzigerjahre schleifen. Das riesige Loch an der Stelle des einstigen Nervenzentrums des Pariser Straßenlebens stopfte man mit dem größten unterirdischen Bahnhof Frankreichs, der heute täglich von einer Dreiviertelmillion Menschen genützt wird, einem weitläufigen Einkaufszentrum, Kinos, Sport- und Veranstaltungszentren. Das mit einem kümmerlichen Park und ein paar verspiegelten Pavillons behübschte unterirdische Labyrinth machte jedoch niemanden glücklich.
Baustelle und laufender Betrieb. Nach einer langen Phase an Wettbewerb und Planung wird bis 2016 hier nun unter der Ägide der Architekten Patrick Berger und Jacques Anziutti um- und neugebaut – und das, ohne die Dreiviertelmillion Fahrgäste oder die 150.000 Kunden, die täglich durch das Einkaufszentrum irren, zu vertreiben. Ein vier Hektar großer Park wird auf dem Gelände entstehen, 500 Bäume sollen für üppiges Grün sorgen. Zahlreiche Spielplätze mit einer Gesamtfläche von 4000 Quadratmetern sind geplant, beinahe vier Kilometer lang wären die Sitzbänke, würde man sie nebeneinander aufstellen.
„Canopée“, zu Deutsch „Blätterdach“, heißt der spektakulärste Teil des Projekts: Der sich über sechs unterirdische Stockwerke erstreckende, von Grund auf neu konzipierte Bahnhofs-, Shopping- und Veranstaltungskomplex wird von einem aus siebzehn gläsernen Lamellen zusammengesetzten Dach mit bis zu 96 Meter Spannweite bedeckt sein. Das gläserne Riesenblatt soll Regen abhalten, dabei aber licht- und luftdurchlässig bleiben und überdies die Sonnenenergie dank Fotovoltaik nützen.
Essen fassen in den Seitengassen. Also alles neu, stylish und Hightech im umgekrempelten Pariser Zentrum? Mitnichten, und das ist gut so. Wenn auch die alten Markthallen nicht mehr stehen, so hat der „Bauch von Paris“ doch unauslöschliche Spuren im Stadtbild hinterlassen. Es genügt ein Spaziergang in eine der verkehrsberuhigten Seitengassen, um tief in eine kulinarische Wunderwelt einzutauchen, wie sie auch schon die großen französischen Romanciers beschrieben haben könnten. Die Rue Montorgueil ist hier an erster Stelle zu nennen, deren Verlängerung nicht ohne Grund „Rue Poissonnière“, also „Fischhändlerstraße“ heißt. Durch diese Straße ratterten vor Jahrzehnten endlose Wagenkolonnen, die Fisch, Austern und andere Meeresfrüchte aus der nahen Normandie in die unersättliche Hauptstadt lieferten. Heute wirkt die hübsch gepflasterte Straße wie ein einziger bunter Straßenmarkt, wo unter Werbetafeln aus dem 19. Jahrhundert Fisch, Käse, Obst, Wein oder Thai-Streetfood angeboten werden und zahlreiche Cafés ihre Terrassen weit in die Straße hineinwuchern lassen. Berühmt ist das 1804 eröffnete Restaurant „Au Rocher de Cancale“, in dem die Seezunge „à la normande“ erfunden wurde, oder, weiter stadteinwärts, die teils denkmalgeschützte Brasserie „Escargot Montorgeuil“. Auch für einen Besuch in der Pâtisserie Stohrer, auf halbem Weg zwischen den beiden kulinarischen Institutionen gelegen, kann man dank Originaldekors aus dem 18. Jahrhundert rein kunsthistorisches Interesse vortäuschen, die Qualität der Makronen, Religieuses und Eclairs ist aber nicht weniger beeindruckend. Wer lieber selbst bäckt, wird gleich ums Eck in der Rue Tiquetonne bei „G. Detou“ fündig, einer Ali-Baba-Grotte für professionelle und dilettierende Patissiers, in der auch Konserven aller Art en détail verkauft werden, von Jahrgangssardinen bis Entenleber, vom extrascharfen Senf bis zu den seltensten Schokoladen.
Wo die Rue Montorgueil in die Hallenbaustelle übergeht, beginnt auch die Rue Montmartre, eine weitere ehemalige Einfallschneise für Lebensmittelhändler. Obwohl sie deutlich ruhiger ist als ihre Nachbarin, lohnt allein die Hausnummer 15 mit dem seit 1871 kaum veränderten Bistro „Le cochon à l’oreille“ den Abstecher. Oder der „Comptoir de la gastronomie“ gleich gegenüber, ein weiteres Juwel aus der Belle Époque: Hier hängen nicht nur herrliche Schinken von der Decke, auch die Sandwiches zählen zu den besten der Hauptstadt – mit Gänseleberpastete und Feigenchutney gefüllte Baguette um sieben Euro. Nicht unbedingt preisgünstig, für ambitionierte Köche aber von magischer Anziehungskraft sind die Kupfertöpfe und anderen Kochutensilien, wie sie etliche Geschäfte der Rue Montmartre in der Auslage haben. In dieser Straße flaniert, wer gerade auf der Suche nach einem Deko-Hummer fürs Meeresfrüchtebuffet ist, Hochzeitstortenpärchen mit unterschiedlichen Hautfarben und in allen Altersklassen sucht, Kochlöffel, die man notfalls auch als Paddel einsetzen kann, oder auch die dickwandigen Bistro-Weingläser, aus denen es sich denkbar schlecht trinkt, die aber diesen gewissen Pariser Charme verströmen. Ein wahrer Pilgerort für Profi- und Hobbyköche ist schließlich der wunderschöne Laden „E. Dehillerin“ in der Rue Coquillière, dessen Kunden vom verblüffend polyglotten Personal im Regelfall auch noch in ihrer Muttersprache beraten werden.
Kammerjägers Adresse. Unweit der Feinkostläden, Stopfleberspezialisten und traditionsreichen Brasserien auf der gegenüberliegenden Seite der riesigen Baustelle wird der weniger appetitlichen Seite der großen kulinarischen Vergangenheit des Viertels gedacht: In einem – natürlich altehrwürdigen – Laden in der Rue des Halles Nr. 8, der auf Ungezieferbekämpfung spezialisiert ist, sind ein paar Dutzend meerschweinchengroße Ratten malerisch drapiert, die im Jahr 1925 in den Kellern der alten Marktpavillons erlegt wurden.
Als „pulsierendes Organ, das Leben in alle Adern pumpt“, beschrieb Émile Zola den alten Pariser Zentralmarkt. Die Definition passt auch auf das neue Projekt: Wo einst der Magen der Stadt war, soll in wenigen Jahren ihr neues Herz schlagen, so will es zumindest das Wording der Stadt Paris. Rein anatomisch betrachtet mag das unmöglich sein. Doch wirkt der Einwand nach einem ausgiebigen Spaziergang durch das von glorreichen Erinnerungen, lebensfroher Gegenwart und ambitionierter Zukunft geprägte Viertel irgendwie läppisch.