Fucking und Marly Gomont haben ein gemeinsames Problem: Regelmäßig werden den Orten ihre Tafeln gestohlen. Während man sich in Fucking im österreichischen Innviertel längst mit dem chronischen Leiden abgefunden hat, weiß man im französischen Marly Gomont noch nicht so recht mit der zweifelhaften Prominenz umzugehen, die das Dorf dem einheimischen Rapper Kamini verdankt. Sein selbstgedrehter Videoclip „Marly Gomont“ fand anfangs zwar keine Plattenfirma, wurde aber im Internet ein Riesenerfolg und machte den dunkelhäutigen Krankenpfleger aus dem Kuhdorf zum Star, bevor er eine einzige Single verkauft hatte. „Marly Gomont“ ist eine böse, aber nicht bittere Abrechnung mit dem Leben auf dem Lande: „In Marly Gomont gibt es keinen Beton/ 65 Jahre ist der Altersdurchschnitt im Kanton/ 95 Prozent Kühe, 5 Prozent Menschen, die hier wohnen.“
Wo man mit Blut die Grenze schrieb…
Das Dorf, das seine gestohlenen Ortstafeln nicht mehr ersetzt, sondern sich mit einer bloßen Geschwindigkeitsbegrenzung begnügt, liegt im Nordosten Frankreichs, in einem Landstrich namens Thiérache. Hier verlief einst die Grenze zwischen Frankreich und den spanischen Niederlanden, was der Gegend immer wieder Kriege und Verwüstungen bescherte. Heute verdankt sie der einstigen Plage ihre touristische Anziehungskraft: Über sechzig Wehrkirchen, Relikte aus dem hundertjährigen Krieg und den Konflikten zwischen Frankreich und Spanien, als plündernde Söldnerbanden durch die Lande zogen, sind erhalten geblieben. Die einzigen steinernen Gebäude der Dörfer wurden damals zu wahren Trutzburgen aus Backstein umgebaut, heute noch sichtbare Spuren von Kanonenkugeln zeigen, wie notwendig die Befestigungen waren. Ein Brunnen innerhalb der wuchtigen Kirchenmauern und zwei offene Kamine, in denen die alten Kochtöpfe hängen geblieben sind, erinnern im verschlafenen Vilmy an vergangene wilde Zeiten. Fast jeder Ort der Thiérache hat seine ziegelfarbene Kirchenburg, bunte Folder und Broschüren schlagen verschiedene Rundfahrten und -wanderungen vor.
Wer die Thiérache als Tourist besucht, wird Kaminis Sager von den 95 Prozent Kühen wahrscheinlich nicht als Nachteil sehen: Immerhin verdankt man der traditionellen Milchwirtschaft, die hier noch vorherrscht, den Maroilles, einen intensiv duftenden Weichkäse mit orangefarbener Rinde, sowie eine intakte Landschaft. Nach den endlosen, an den Horizont reichenden Feldern des Flachlands der Picardie und der Champagne, die den Durchreisenden in eine eigenartig melancholische Stimmung versetzen, bessert sich die Laune beim Anblick der grünen Hügel der Thiérache schlagartig. Kühe und Schafe weiden zwischen Obstbäumen, inmitten der Dörfer stehen die alten Backsteinkirchen, Felder und Wiesen sind durch natürliche Hecken abgegrenzt, Bauern verkaufen ab Hof Maroilles und Cidre. Gelegentlich vermittelt die bukolische Landschaft den Eindruck, einem etwas kitschigen Bilderbuch entsprungen zu sein.
Schlafende, schäbige Schönheit
Guise holt den Reisenden wieder in die Realität zurück. Die historische Hauptstadt der Thiérache war jahrhundertelang ein strategisch wichtiger Ort, Bollwerk oder Eingangstor Frankreichs, je nach Perspektive. Hier war eine der wenigen Furten durch den Fluss Oise, die es Heeren aus dem Norden möglich machte, in Richtung Paris vorzustoßen. Entsprechend kriegerisch verlief die Geschichte des Stammsitzes der Herzöge von Guise, die sich in den Massakern der Religionskriege als besonders blutrünstige Bekämpfer des Protestantismus hervortaten. Von einstiger Pracht ist bei einem Spaziergang durch die alte Herzogsstadt nichts mehr zu bemerken. An mehreren Geschäftslokalen zwischen den Pizza-Kebab-Grill-Buden im Zentrum sind „à vendre“-Schilder angebracht, „zu verkaufen“; bei den grellrosa Anstrichen, die der eine oder andere pleite gegangene Lokalbesitzer den alten Backsteinmauern verpasst hat, dürfte es sich um Verzweiflungstaten gehandelt haben. Man kann der schäbigen Stadt, die auch charmant sein könnte, nur wünschen, dass sich eines Tages jemand mit der gleichen ausdauernden Liebe ihrer annimmt, mit der seit wenigen Jahren die Renaissancefestung der Herzöge renoviert und Besuchern zugänglich gemacht wird. Im Ersten Weltkrieg wurde die riesige Anlage in Trümmer geschossen, diente dann jahrzehntelang als Steinbruch, später als Müllhalde.
Von ihrem erhaltenen Turm schweift der Blick über das alte Zentrum der Stadt, das immerhin einmal schön gewesen sein muss, und modernere Viertel, die es nie sein werden. Etwas außerhalb liegen die Gebäude des „Familistère“, der Backstein gewordenen Sozialutopie des Jean-Baptiste Godin. Der Unternehmer, der im 19. Jahrhundert die noch heute bestehende Gusseisenfabrik gründete, ließ für seine 1500 Arbeiter und Angestellten und ihre Familien eine Wohnanlage errichten, die sich an Charles Fouriers Konzept des „utopischen Sozialismus“ orientierte. Die Wohnungen wurden mit fließendem Wasser und Toiletten ausgestattet, was zur Zeit ihrer Errichtung alles andere als üblich war, die Gebäude verfügen über großzügige, helle Innenhöfe. Zu dem Komplex gehört neben Schwimmbad und Theater auch eine Schule, deren Besuch für Knaben und Mädchen gleichermaßen verpflichtend und kostenlos war. Hundert Jahre dauerte die Utopie, Jean-Baptiste Godins Nachfolger haben die Anlage ausgerechnet 1968 verkauft.
Der sichtbare Kontrast zwischen den von Godin umgesetzten Ideen Fouriers, eines Vordenkers des Feminismus im frühen 19. Jahrhundert, und der Realität des Jahres 2007 schmerzt: Viele der Mütter, die man tagsüber ihre Kinderwägen durch Guise schieben sieht, sind auffallend jung. Der überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit und den mangelnde Perspektiven versuchen viele durch die Gründung einer Familie zu entkommen. Keine Aussichten, kombiniert mit Langeweile, das ergibt unter Umständen eine gefährliche Mischung. „Ein ganz normaler Tag bei uns hier draußen/ der Briefträger, ein Traktor, und aus“ singt Kamini in „Marly Gomont“, und weiter „Aber ich, ich wollte mich auflehnen/ doch dort gibt’s nicht mal etwas zu verbrennen“. Die Realität hat die witzig gemeinten Zeilen inzwischen überholt. Wenige Monate nach dem Erfolg des rustikalen Rappers kam die Thiérache frankreichweit ins Gerede, als Jugendliche in der Kantonshauptstadt Vervins, über ein Jahr nach den Revolten in den französischen Banlieues, einige Autos anzündeten. Das Bild brennender Autos will nicht so recht zur friedlichen Kleinstadt mit den alten Backsteinhäuschen passen, genausowenig wie die Tatsache, dass sich ihr Bürgermeister im Januar dazu veranlasst sah, den Alkoholkonsum im Freien zu verbieten. Die großen französischen Zeitungen druckten alarmistische Reportagen über die Frustration der Jugend in der Thiérache und in anderen ländlichen Gebieten Frankreichs.
Slow News
Wesentlich unaufgeregter gab sich die lokale Wochenzeitung „Le Démocrate de l’Aisne“, die den Autobränden gerade einmal eine Kurzmeldung widmete. Hysterie und Sensationsjournalismus wären auch kaum mit der Würde des Blattes vereinbar: Es handelt sich um die letzte Zeitung Frankreichs mit Bleisatz, deren Überschriften noch händisch gesetzt werden. 1200 Exemplare werden wöchentlich gedruckt, die Abonnenten sind über ganz Frankreich verstreut. Zwei treue Leser lassen sich den „Démocrate“ sogar nach Washington und Australien schicken, was nur zu gut verständlich ist: Die nicht immer schnurgeraden Überschriften und die Spuren der Setzkästen verleihen der großformatigen Zeitung eine nostalgische Schönheit und Eleganz, mit der keine moderne Konkurrenz mithalten kann.
Man verlässt die Druckerei in Vervins, die man nur anhalten müsste, um sie in ein Museum zu verwandeln, berauscht vom Tintenduft der Druckerschwärze. Der Grund dafür, dass hier noch eine Linotype-Maschine aus den 30er Jahren und eine Druckmaschine aus dem Jahr 1927 ihre treuen Dienste tun, ist allerdings wenig romantisch: Größere Investitionen kann sich die Zeitung, die vom Anzeigenverkauf lebt und keinen potenten Geldgeber im Rücken hat, schlicht und einfach nicht leisten. Romantik hat mitunter prosaische Gründe, und wer mit offenen Augen durch die Thiérache fährt, wird sowohl Idyllen als auch deren Kehrseiten kennen lernen. Die ganze Widersprüchlichkeit der Gegend verkörpert das Dorf Plomion: Es liegt inmitten einer wunderschönen Landschaft, seine Wehrkirche, eine der imposantesten weit und breit, ist ein beliebtes Postkartenmotiv und ziert die Umschläge der meisten Touristenprospekte. Das Dorf selbst hingegen ist trist, der Asphalt löchrig, die Fassaden verfallen nicht pittoresk, sondern armselig; an drei Häusern am Dorfplatz hängt das „à vendre“-Schild. Warum es in der Thiérache zwar kaum Dorfwirtshäuser gibt, dafür aber ausgerechnet im deprimierenden Plomion ein Restaurant, in dem die billigste Vorspeise 18 Euro kostet, ist ein Rätsel, das zu ergründen ich mir nicht leisten kann.
Verfreundete Nachbarn
Einiges spricht dafür, dass das zahlungskräftige Publikum in der Thiérache, die jahrhundertelang an der nahen Grenze zu den spanischen Niederlanden litt, heute wieder zunimmt. Derzeit findet eine neuerliche, friedliche Invasion aus dem Nordosten statt: Haben sie die Grenzregion früher auf ihrem Weg in den Süden nur möglichst schnell durchquert, so biegen frankophile Niederländer auf der Suche nach Freiraum inzwischen immer öfter schon im Norden von der Durchzugsstrecke ab, entdecken die Gegend für sich und kaufen einsame Häuser und Bauernhöfe. Ihr Interesse am Norden ist neu: noch vor wenigen Jahren kaufte, wer es sich leisten konnten, ein altes Häuschen in Südfrankreich, im Périgord oder in der Ardèche, wo heute auf Schildern „Merde aux Hollandais“ zu lesen ist, „Scheiß auf die Holländer“. Dass die Nordeuropäer ganze verlassene Dörfer renovieren und geschlossen bewohnen, wird von denen, die sie verfallen haben lassen, als feindliche Übernahme gewertet. Nicht so in der Thiérache: „Wir lassen uns sicher nicht kolonisieren“, meint Blandine, meine resolute Zimmerwirtin, außerdem würden die Häuser, die die neuen Nachbarn restaurieren, andernfalls verkommen. Die Liebe der Niederländer zum nordöstlichen Eck Frankreichs beruht längst auf Gegenseitigkeit, in manchen Gemeinden stellen sie bereits Lokalpolitiker. Als Symbol für die Beziehung kann man die alte Kirche von Jeantes sehen, deren 400 m2-Fresko im Innenraum in den sechziger Jahren vom holländischen Maler Charles Eyck gestaltet wurde, und die heute der Stolz des Dorfes ist.
Die Thiérache sei kein Land, sondern ein „Grenzsystem“ und deswegen schwer zu fassen, lese ich in einem geografischen Aufsatz über den Maroilles. Ich kann den Satz nachvollziehen, auch wenn er vielleicht anders gemeint war. Einst verlief hier die Grenze zwischen Frankreich und den spanischen, später österreichischen Niederlanden. Administrative Grenzen teilen das Land heute auf drei französische Départements und einen Zipfel Belgiens auf. Spür- und sichtbar ist oft die Grenze zwischen Idylle und Öde. Vielleicht zeichnet sich inzwischen schon eine neue Grenze ab: zwischen Frustration und Aufbruch. So betrachtet kann man die Schlusszeilen von Kaminis Lied über sein Heimatdorf auch positiv verstehen: „Gewidmet allen kleinen Nestern/ den kleinen, verlassenen, den elenden Nestern/ Wo es nichts zu tun gibt, wo alles noch zu tun ist.“
Georg Renöckl, April 2007