Arm, jung, sexy

Reisen kann man derzeit nur im Kopf. Hier ein paar Bilder und eine Geschichte aus Roubaix – an „Hölle des Nordens“ denken bei diesem Namen sicher nur Menschen, die diese phantastische Stadt nicht kennen. Eine Presse-Reise…

REPORTAGE

Roubaix: Arm, jung, sexy

Auch wenn wir in diesem Frühling 2020 andere Sorgen haben: Nach der Coronakrise werden wir wieder reisen. Aktuell können wir träumen, nachlesen, ja vielleicht sogar planen.

Es fühlt sich so an, als hätte ich jahrelang auf genau diesen Ort gewartet“, beschreibt Illustratorin Flora Beillouin ihren neuen Arbeitsplatz. Die vielseitige Künstlerin arbeitet gerade an einer Serie von Linolschnitten, die prominente Bewohner der Stadt vor dem Hintergrund erträumter Pflanzenparadiese zeigen. An anderen Tagen betreut die ausgebildete Journalistin Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Milieus, die gemeinsam neue Videoformate entwickeln. Ihr Atelier befindet sich in einem Palast, doch der war ursprünglich ein reiner Zweckbau: In der 1901 im nordfranzösischen Roubaix errichteten „Condition publique“ wurde einst Wolle gewogen, auf Feuchtigkeit und Qualität überprüft und eingelagert. Wie an kaum einem anderen Gebäude kann man an dem einstigen Industriepalast die Geschichte der Stadt zwischen Lille und der belgischen Grenze ablesen: Die prächtige Fassade zeugt von altem Reichtum, doch man sieht ihr auch an, dass die Räder im Inneren schon lang stillstehen. Viel Street-Art ist an ihren Mauern und in den Straßen in der Umgebung zu sehen, doch sind die Bilder, die in keinen Rahmen passen wollen, nicht wie andernorts ein Hinweis auf Verwahrlosung – eher im Gegenteil: Die anarchische Kunstform ist ein wesentlicher Bestandteil des neuen Lebensabschnitts, in den der Wollpalast und die ganze Stadt längst aufgebrochen sind. Die Geschichte von Roubaix folgt dem Schema eines Heldenepos, in dem auf einen steilen Aufstieg und eine glanzvolle Periode ein tiefer Fall, die Läuterung und dann ein zweiter Frühling folgt.

Vor einigen Jahren noch war Roubaix eine der reichsten Städte Frankreichs. Der alte Wohlstand geht auf das Jahr 1469 zurück. Damals erhielt das flämische Städtchen von Karl dem Kühnen das verbriefte Recht, Wollstoffe herzustellen und damit zu handeln. Textilmanufakturen entstanden, Roubaix wurde reich, blieb aber – wie das übrige Flandern jahrhundertelang zwischen verschiedenen Herrschaftsbereichen hin- und hergerissen – vergleichsweise klein. Gerade einmal 8000 Einwohner hatte die längst französisch gewordene Textilstadt noch im Jahr 1800. Dann kam die Dampfmaschine, und keine hundert Jahre später lebten schon 125.000 Menschen aus aller Herren Länder in der kaum wiederzuerkennenden „Stadt der tausend Schlote“. 1911 beauftragten die stolzen Bürger von Roubaix den Architekten Victor Laloux, der auch den Pariser Orsay-Bahnhof geplant hatte, das prächtigste Rathaus Frankreichs zu bauen. Wenige Jahre später plünderten und demontierten die deutschen Besatzer die Fabriken der Stadt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der berühmte Ausspruch von der „Hölle des Nordens“ geprägt: Er bezeichnete ursprünglich die vom Krieg verwüsteten Gebiete Nordfrankreichs, durch die das berühmte Radrennen Paris-Roubaix führte, blieb aber bis heute am Rennen und seinem Ziel Roubaix kleben.

Die Stadt konnte bald wieder an die alte Vormachtstellung auf dem Textilsektor anknüpfen. Industrielle ließen sich prächtige Villen etwas außerhalb des Zentrums bauen, das permanent in eine stinkende Wolke aus Lanolin und Kohlenrauch gehüllt war. Die heute noch interessanteste von allen ist das riesige Einfamilienhaus, das der Textilindustrielle Paul Cavrois für sich und seine große Familie von Robert Mallet-Stevens planen ließ, einem Intimfeind Le Corbusiers. Die 1932 fertiggestellte Villa Cavrois gilt als Hauptwerk des kompromisslos modernen Architekten. „Wahrer Luxus bedeutet, in einem hellen, freundlichen, luftigen Umfeld zu leben, mit gut funktionierender Heizung und so, dass möglichst wenig unnützer Aufwand und Personal nötig sind“, erklärte Mallet-Stevens mit viel Understatement die Prinzipien, die der Villa mit 2400 m2 Wohnfläche und teilweise sechs Meter hohen Räumen zugrunde liegen sollen. Ästhetisch, aber auch haustechnisch war das Gebäude seiner Zeit voraus, doch in den achtziger Jahren wäre es beinahe abgerissen worden. Roubaix hatte einen tiefen Fall hinter sich. In den 60ern war die französische Textilindustrie in die Krise geschlittert. Die Fabriken sperrten zu, Zehntausende verloren ihre Arbeit. 1972 schloss auch die Condition publique ihre Pforten. Das elegante Zentrum der auf einen Schlag verarmten Stadt wurde schmuddelig, das prachtvolle Rathaus wirkte seltsam deplatziert, die Industriepaläste verfielen. Den Tiefpunkt erreichte die Krise Roubaix‘ im Jahr 1985, als das städtische Schwimmbad, schlicht „La Piscine“ genannt, schloss. Es war der letzte verbliebene Rest des alten Glanzes: Das unter dem ersten sozialistischen Bürgermeister der Stadt, Jean Lebas, im Jahr 1932 eröffnete Bad war das schönste Frankreichs gewesen. Doch in den 1980er Jahren fehlte das Geld für die notwendige Totalrenovierung.

Es folgten bleierne Jahrzehnte, erst die Jahrtausendwende brachte einen Neubeginn. 2001 eröffnete die „Piscine“ wieder – als Museum für Kunst und Gewerbe. Die Einwohner von Roubaix hatten ihre alte Liebe zum Schwimmbad nicht vergessen: Das für etwa 60.000 bis 80.000 jährliche Besucher geplante Museum platzte bald aus allen Nähten. 200.000 Menschen im Jahr wollten die reichhaltigen Sammlungen von Textilien, Skulpturen, lokalen und internationalen Impressionisten, Keramikkunst, aber auch das prachtvoll renovierte Schwimmbad selbst bestaunen, das zwischen 2016 und 2018 schließlich aufs Neue umgebaut und erweitert wurde.

Bald nach dem Schwimmbad erwachte auch die Condition publique zu neuem Leben: 2004 war die Metropolregion von Lille europäische Kulturhauptstadt, die verfügbaren Mittel reichten auch für einen Neubeginn des Wollpalastes als Kulturzentrum. Architekt Patrick Bouchain plante die Renovierung, auf 10.000 Quadratmetern Nutzfläche ist nun Platz für Filmstudios, Gemeinschaftswerkstätten, Künstlerateliers, einen Konzertsaal, Ausstellungssräume, ein Restaurant und einen Dachgarten.

Zahlreiche weitere ehemalige Industriegebäude in und um Roubaix werden mittlerweile neu genützt, wie die Ateliers Jouret mitten im Zentrum oder eine riesige Spinnerei, schlicht „La Manufacture“ genannt, die heute ein der Geschichte der Textilindustrie und den Lebensbedingungen der Arbeiterschaft gewidmetes Museum ist. Doch auch die Textiltradition ist noch am Leben: 450 Textilfabriken sorgen im Großraum Roubaix für immerhin 15.000 Arbeitsplätze. Man hat sich spezialisiert: In Roubaix werden heute Fasern für schusssichere Westen entwickelt oder solche für Formel-1-Pilotenmasken, die 1000 °C aushalten müssen, künstliche Sehnen und anderes Körpergewebe für die plastische Chirurgie, oder auch T-Shirts aus Fasern von Kaffee, Minze und Aloe Vera, die kühlen, anti-allergen sind, oder dank integriertem Jojoba-Öl zur schnelleren Sonnenbräune verhelfen.

Auffälliger als die Fabriken sind heute jedoch eindeutig zahlreiche Künstlerateliers, die die Stadt beleben. Das einstige „Manchester Nordfrankreichs“ hat sich zu „Brook’Lille“ gemausert und präsentiert sich als arm, aber sexy. Jung ist Roubaix obendrein: Fünfzig Prozent der Bevölkerung sind unter 29. Platz für die Kreativen, die der ehemaligen Industriestadt bei der Imagekorrektur helfen sollen, ist genug: „Die Bevölkerung von Roubaix ist seit dem zwanzigsten Jahrhundert geschrumpft. Wir haben mehr Freiraum als andere Städte, und wir haben großartige Gebäude – also stellen wir diese bewusst Künstlern und Start-ups zur Verfügung, die wenig Geld haben, aber Platz brauchen“, erklärt Constance Vasse-Krebs vom Fremdenverkehrsamt der Stadt. Selbst dieses ist so ganz anders als gewohnt: Das Inventar besteht aus Upcycling-Möbeln, wie auch der Souvenirshop. „Zero waste“ ist eine der Schienen, auf der die Stadt in eine neue Zukunft fahren möchte: Seit 2014 nehmen bereits 500 Familien aus Roubaix an einem Programm zur Reduktion des Hausmülls teil. Derzeit hält man bei einem Minus von immerhin 40 Prozent. Auch der Weihnachtsmarkt von Roubaix ist der bislang einzige Zero-Waste-Christkindlmarkt Frankreichs. In der Tourist-Info gibt es gratis Tretroller zum Ausleihen, und so kann man, immer einem blauen, den alten Glasur-Ziegeln nachempfundenen Strich entlang, klimaneutral in den verschiedenen Stadtteilen dem besonderen Geist nachspüren, der durch die von teils bröckelnden, teils durch Streetart in Szene gesetzten, teils frisch sanierten Backsteinfassaden der Gassen von Roubaix weht. Ob man sich nun rollend oder zu Fuß in Richtung der neu genützten alten Industrieviertel aufmacht – wenige Minuten genügen, um Flora, die kreative Journalistin der Condition Publique, vollauf zu verstehen, wenn sie erklärt: „In Roubaix spürt man eine ganz besondere Dynamik. Mir war sofort klar, dass es hier für mich genau passt.“

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