Das Bibliotheks-Porträt erschien im März 2010 in der Zeitschrift „Literatur und Kritik“
Wer in Paris nach Büchern stöbern will, der geht an die Seine, wo die Bouqinisten ihre Stände haben. Die wie überdimensionierte Blumenkästen am Ufergeländer aufgehängten Bücherschachteln gehören zwar zum Paris-Klischee wie Eiffelturm und Café-Croissant, doch ist es hier nach wie vor möglich, zwischen allerlei Ramsch überraschende oder kostbare Bücher und Drucke zu entdecken.
So scheint es naheliegend, dass die noch von François Mittérrand in Auftrag gegebene „neue“ französische Nationalbibliothek ebenfalls an die Seine gebaut wurde. Vielleicht war es auch nur Zufall, dass ein nicht mehr benötigtes Betriebsgelände der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF sich eben genau hier befand, zwischen den Wohnsilos des längst zu China-Town gewordenen dreizehnten Arrondissements und dem Fluss. Wie auch immer: In Paris wird seit jeher nicht gekleckert, sondern geklotzt, und so plante man nicht „nur“, die bedeutendste Bibliothek der Welt an die Seine zu bauen, sondern gleich ein ganzes Stadt- und Universitätsviertel dazu, bei dem sich die Crème de la crème der französischen Architektur austoben durfte und noch darf.
Viel Wasser, viel Licht – eine Bibliothek für Topfpflanzen…
Die Kritik am monumentalen Bauwerk stand dem Ehrgeiz des Projekts von Anfang an um nichts nach. Angriffsflächen bot die von Dominique Perrault geplante „Très grande bibliothèque“ zur Genüge: Bücher und Wasser vertragen sich schlecht, was den Standort direkt am Flussufer problematisch macht, und auch der gewählte Ausweg – nämlich Hoch- statt Tiefspeicher zu bauen, die wie aufgestellte, geöffnete Bücher die vier Ecken des Gebäudes markieren – birgt seine Tücken: die Büchertürme sind aus Glas, und auch Sonnenlicht schadet dem Papier, weswegen hölzerne Blenden eingebaut werden mussten und die Klimaanlage Unsummen verschlingt. Auch der Umstand, dass man zum Lesen in den Keller gehen muss, gefiel den Kritikern wenig. 1996 wurde die Bibliothek schließlich dem Publikum geöffnet, in den ersten zehn Jahren haben ihre gut zehn Millionen Bände auch rund zehn Millionen Besucher angezogen. Trotz der Superlative ist das Jubiläumsjahr fast verdächtig ruhig verlaufen, das spektakulärste Ereignis fand kurz vor dem runden Geburtstag statt: Im Herbst 2005 wurden zwei für Ludwig den Vierzehnten angefertigte Globen des italienischen Meisters Vicenzo Coronelli mit jeweils vier Metern Durchmesser im Eingangsbereich angebracht und sorgen seither für märchenhaft blauen, königlichen Glanz in der Bibliothek, die seit der Revolution nicht mehr dem Monarchen, sondern dem Volk gehört.
… und sportliche Leser
Der Revolution von 1789 verdanken die Franzosen aber nicht nur Nation und Bibliothek, sondern auch die Möglichkeit, immer neue Wörter auf „-cide“ erfinden zu können, um beispielsweise Freiheits- oder Gurgelabschneider beim Namen zu nennen: Ein „liberticide“ ist jemand, der die Bürgerrechte einschränkt, ein „regicide“ ein Konventionsmitglied, das den König aufs Schafott geschickt hat. Die neue Bibliothek wiederum sei, heißt es seit ihrer Eröffnung, „géronticide“ – eine Altenmörderin. Tatsächlich ist das Durchschnittsalter der Bibliotheksbenützer seit der Übersiedlung deutlich gesunken, von 39 auf 35 Jahre. Und es stimmt, dass die gesunden Geister, die sich in der Nationalbibliothek fit halten wollen, in gesunden Körpern stecken sollten. Von den beiden Métrostationen in der Nähe ist es jeweils noch ein gutes Stück zu Fuß, bis man an einem der Eingänge angelangt ist. Kommt man von der Haltestelle „Quai de la Gare“, müssen auch noch die Stiegen des Sockels bewältigt werden, auf dem die Bibliothek steht und die sie vom Seine-Ufer aus wie eine aztekische Opfer-Pyramide aussehen lassen. Auf der Plattform aus Tropenholz angelangt, aus deren Ecken die vier 80 Meter hohen Büchertürme wachsen, ist noch eine Art Filter zu bewältigen: In Gitterkäfige gezwängte Hecken bilden Gänge, die es unmöglich machen, anders als auf geradestem Weg in Richtung Eingang zu streben. Perfektion oder Perversion des französischen Gartens? Natur und Mensch sind jedenfalls maximal domestiziert. Ist man nach vorübergehend wohlgeordnetem Einmarsch durch die Hecken-Siebe auf der Ebene zwischen den Ecktürmen angelangt, wird erst der Blick auf den eigentlichen Garten frei, der tief unten, im zweiten Kellergeschoß angelegt ist. Die höchsten Wipfel seiner Bäume reichen bis knapp an die Plattform, auf der man nun steht.
Speed kills
An dieser Stelle von diesem Gebäude nicht beeindruckt zu sein, ist schwer möglich. Die schieren Ausmaße der größten Bouquinistenschachtel an der Seine sind gewaltig. In trockenem Zustand machen die 60 000 Quadratmeter Holzboden rund um den Garten-Schacht Lust auf Radfahren oder Rollschuhlaufen, aber das ist nicht ratsam: Räder, die im Inneren des von den vier Türmen abgesteckten Rechtecks gefunden werden, versieht der Ordnerdienst mit einem Schloss, das erst nach 20 Uhr wieder geöffnet wird. Die Ruhe und Würde des Ortes bleibt so gewahrt, aber nur, wenn es nicht regnet: Bei Nässe wird die Holzplattform ziemlich rutschig, und da die Türme für stetigen Wind sorgen, der durchaus böig ausfallen oder sich zum Sturm steigern kann, verwandelt sich die Bibliothek an so manchem Herbst- oder Wintertag in einen großen Eislaufplatz mit unfreiwilligen Sportlern und ungewollten Akrobatik-Einlagen.
Von den beiden Schmalseiten der Plattform aus würden schräge Förderbänder den Besucher nach unten transportieren, wären sie eingeschaltet – was aber aufgrund zahlreicher Unfälle nach der Eröffnung definitiv nicht mehr der Fall ist. Man trottet also schräg hinunter ins obere der beiden Tiefgeschoße, passiert einen Metalldetektor, der sogar auf Kaugummipapier anschlägt, und befindet sich endlich im cool-noblen Inneren der Bibliothek, mit roten Teppichböden, viel Sichtbeton, Holz und Metall, elegant designtem Mobiliar und einem schönen Blick in die Kronen der noch immer weit unten wurzelnden Kiefern, die aus einem normannischen Wald stammen und an einen Klostergarten erinnern sollen. Hier herrscht ein relativ frohes Treiben, Studierende bevölkern die Lesesäle, die Cafeteria ist teuer, aber gut besucht, die Bücher sind in Freihandaufstellung angeordnet. „Die Hauptfunktion einer Bibliothek ist die Möglichkeit zur Entdeckung von Büchern, deren Existenz wir gar nicht vermutet hatten, aber die sich als überaus wichtig für uns erweisen“, schreibt Umberto Eco. Immerhin, diese Funktion erfüllt sie.
Die solcherart zur Entdeckung freigegeben Bücher, die wechselnden Ausstellungen an den Sichtbetonwänden und die Coronelli-Globen lohnen den Besuch des oberen Bibliotheksteils, der vor allem von Studierenden genützt wird. Die wirklichen Schätze lagern weiter unten, in der wissenschaftlichen Abteilung. Hier darf man nur hinein, wenn man Universitätsprofessor oder Doktorand ist. Tasche oder Rucksack werden in der Garderobe abgegeben, mit einem durchsichtigen Plastikköfferchen geht es dann durch zwei Stahltüren, die sich nur langsam öffnen lassen. Lange Rolltreppen in einer riesigen Halle aus Beton führen in die Tiefe. Dort muss noch einmal die Chipkarte gesteckt werden, noch einmal sind zwei schwere Stahltüren zu öffnen, einmal Drücken, einmal Ziehen, eine Bewegung, die an Rudern erinnert (beidhändiges, wie in einer Galeere).
Die gezähmte Bibliothek
Die Enttäuschung: Der Zutritt zum normannischen Garten bleibt von einer gläserenen Wand versperrt. Die Türme wirken noch ein Stück höher. Auch hier dominieren rote Teppiche, Sichtbeton und Edelstahl, die Klos schauen aus wie in einer Nobeldisco (und sind konstant ebenso verdreckt). Gut tausend Leser benützen täglich die thematisch geordneten Lesesäle hier unten. Es herrscht konzentriertes Schweigen. Rund um die Kaffeeautomaten in den Pausenräumen kauen die Leser an ihren mitgebrachten oder in der überteuerten Cafeteria gekauften Sandwiches, lesen dabei Zeitung oder schauen ins Leere. Vielleicht ist Einsamkeit einfach die Kehrseite der Wissenschaft, vielleicht wird sie auch durch die kalte, einschüchternde Architektur verstärkt. In einer Broschüre zum Zehnjahresjubiläum schreibt ein Leser, dass man diese Bibliothek erst „zähmen“ muss, besser kann man es nicht sagen.
Die große Bibliothek ist aber nicht nur ein schrecklicher Ort, sondern, hat man sie einmal für sich gezähmt, auch ein ganz wunderbarer. Wie so oft in Frankreich sind die Hürden, die Unbefugte abhalten sollen, unangenehm, abschreckend und zermürbend. Hat man es aber einmal bis zur Glaswand des Gartens geschafft, ist man zwar nicht im Paradies, aber an einem zum Arbeiten ziemlich idealen Platz. Es gibt kaum ein Buch, das man hier nicht bekommt, das Personal ist zuvorkommend, die Wartezeiten minimal. Wo früher Gras zwischen nicht mehr benötigten Geleisen wuchs, befindet sich heute zwar vielleicht nicht die allerbedeutendste Bibliothek der Welt, aber eine ausgezeichnete auf jeden Fall. Ein Kino ist ins Gebäude integriert, eine der schönsten Seinebrücken schwingt sich direkt zur Holzplattform, in Rekordzeit wächst ein moderner Stadtteil rund um die Büchertürme. Vielleicht bringt die Universität schön langsam auch das nötige Leben hinein, einstweilen wirkt das neue Viertel noch ähnlich kühl wie die Bibliothek in seinem Zentrum.
Umberto Eco beschreibt seinen idealen Studienort als „lustvolle Bibliothek, in die man gerne geht und die sich allmählich in eine große Freizeitmaschine verwandelt, wie das Museum of Modern Art in New York, wo man ins Kino gehen, durch den Garten schlendern, die Statuen betrachten und eine komplette Mahlzeit einnehmen kann.“ Ob die große Bibliothek an der Seine diese Verwandlung schafft, bleibt abzuwarten.