Die Möglichkeit einer Brücke

Hier gehts zum NZZ-Artikel vom 14. 1. 2012

(Der hat einen anderen Titel).

Mathias Enards Michelangelo-Phantasie

Georg Renöckl ⋅ Ausser einem Platz und einer Moschee, die seinen Namen tragen, erinnert in Istanbul heute nicht mehr viel an Sultan Bayezid II. Dabei verfolgte der von 1481 bis 1512 regierende Osmane ehrgeizige urbanistische Pläne: Durch eine Brücke über das Goldene Horn wollte er das Zentrum Istanbuls mit den europäisch geprägten Vorstädten verbinden und so das alte Konstantinopel zur würdigen Metropole seines jungen Reiches machen. Für diese Brücke zeichnete niemand Geringerer als Leonardo da Vinci 1502 einen Entwurf, der Bayezid jedoch missfiel. 1506 lud er Michelangelo an seinen Hof. Auch Istanbul sollte nach dem Willen des Sultans einen entscheidenden Impuls durch das Renaissance-Genie erfahren. An diesem Punkt enden die historischen Fakten, und genau hier beginnt Mathias Enards Roman «Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten».

Von Konstantinopel nach Istanbul

Was, wenn Michelangelo, der in Rom unter dem unberechenbaren Papst Julius II. litt, die Einladung angenommen und tatsächlich Pläne für die Brücke gezeichnet hätte? Immerhin war die Gelegenheit günstig, über den ungeliebten Rivalen Leonardo zu triumphieren, und obendrein gut bezahlt. Wie wäre es dem genialen, aber schwierigen Künstler am intrigenreichen osmanischen Hof ergangen? Wie im brodelnden Istanbul, das wenige Jahrzehnte zuvor noch Konstantinopel geheissen hatte? Was geschah – gesetzt den Fall, dass es sie gab – mit Michelangelos Istanbuler Entwürfen?

Mathias Enard, der 2008 mit «Zone» eine atemraubende Kulturgeschichte der Gewalt im Mittelmeerraum vorlegte (auf Deutsch erschien sie vor einem Jahr), macht Michelangelos Reise in die osmanische Hauptstadt plausibel. Geschickt baut er authentische Briefe in den Roman ein, die durchaus in Istanbul entstanden sein könnten. Lange lässt er den vor den Stimmungsschwankungen des Papstes geflohenen Künstler scheinbar planlos durch Istanbul schweifen, dessen alte christliche und gerade erst entstehende islamische Prachtbauten studieren, zusammenhanglose Skizzen anfertigen und das rege Hafenleben beobachten.

Dass sein Bauwerk einzigartig werden muss und er vor einer der schwierigsten Aufgaben seines Lebens steht, ist dem Florentiner bewusst – bloss: «Michelangelo fällt nichts ein», zumindest in den ersten Wochen. An die architektonische Herausforderung geht er heran, wie er als Bildhauer an einen Marmorblock tritt: Er ist es gewohnt, seine Statuen aus dem Stein gleichsam zu befreien, die Figur offenbart sich ihm bereits im Stoff. Doch der Stoff dieser Stadt, die gerade noch eines der bedeutendsten Zentren der Christenheit war und nun die Hauptstadt einer aufstrebenden islamischen Grossmacht ist, bleibt ihm «so rätselhaft, dass er nicht weiss, mit welchem Werkzeug er ansetzen soll». Der – auch ausserhalb von Enards Roman – bedeutende Dichter Mesihi von Pristina verliebt sich schliesslich in Michelangelo und führt ihn in das nächtliche Leben der Stadt ein, in dem die aus Spanien vertriebenen Sepharden und Mauren, die Bayezid aufgenommen hat, eine wichtige Rolle spielen. Eine geheimnisvolle Fremde, voller Geschichten aus den für die islamische Welt verlorenen andalusischen und portugiesischen Emiraten, weckt Michelangelos Inspiration und lässt einen grossartigen Plan in ihm reifen, lockt ihn aber auch ins Herz einer todbringenden Intrige.

Orient und Okzident

«Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten» ist ein spannendes und anregendes Gedankenexperiment, das die Renaissance auch in die zweite Hauptstadt des antiken römischen Imperiums holt und mit der Möglichkeit spielt, dem Mittelmeerraum auf symbolischer Ebene ein Stück seiner verlorengegangenen Einheit zurückzugeben. Die Geschichte einer gescheiterten Brücke ist mehr als ein historischer Roman. Sie ist ein sensibles Künstler- und Stadtporträt, lässt sich aber auch als intelligente und poetische Parabel über die konfliktreichen und fruchtbaren Beziehungen von Orient und Okzident lesen. Auf gut 150 Seiten zeigt Enard, dass hohe Dichte und spielerische Eleganz kein Widerspruch sein müssen. Literarisch schöpft der noch nicht vierzigjährige Franzose, der in Barcelona Arabisch lehrt, genauso aus dem Vollen wie in Hinblick auf sein enzyklopädisches Wissen über die Kulturen eines Nahen Ostens, der einmal bis Andalusien reichte. Holger Fock und Sabine Müller haben das Buch souverän übersetzt.

Leonardos Brücke wurde übrigens doch noch gebaut: 2001, in der Nähe von Oslo, als Teil des weltweiten Leonardo Bridge Project. Von Michelangelos Brücke wissen wir hingegen nichts. Was in diesem Nichts alles stecken kann, führt Mathias Enard in seinem Roman eindrucksvoll vor Augen.

Mathias Énard: Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Berlin-Verlag, Berlin 2011. 150 S., Fr. 28.90.

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