Wer nicht weiß, was er mit der Mammutkeule im Tiefkühlfach anstellen soll, lese das hier für Ö1 (Kontext) besprochene Buch Uta Seeburgs. Nachzuhören bis 14. Juli, nachzulesen hier:
Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, meint Bert Brecht, doch die Sache ist wohl etwas komplizierter, als es das prägnante Diktum vermuten lässt. Zwar steht das Essen tatsächlich so weit am Anfang unserer Bedürfnisse, dass so gut wie alles andere, das uns Menschen beschäftigt, im Vergleich nachrangig erscheint. Andererseits ist das Essen selbst viel mehr als eine simple körperliche Notwendigkeit. Es ist die älteste und wichtigste soziale Institution, die die Menschheit kennt. Das gemeinsame Essen ist das Fundament der Gesellschaft, es zelebriert und zementiert Macht und Hierarchie, kann zum Mittel zivilen Ungehorsams und zum leidenschaftlich umkämpften nationalen Gut werden, wie Uta Seeburg herausgefunden hat. Die an sich auf Design und Reisen spezialisierte deutsche Journalistin, Autorin und Literaturwissenschaftlerin hat sich auf eine ausgedehnte kulinarische Reise durch die Geschichte der Essgewohnheiten der Menschheit gemacht, von der Altsteinzeit bis zur Corona-Pandemie. Ihre dabei gewonnen Erkenntnisse stellt sie in ihrem Buch Wie isst man ein Mammut? anhand von 50 Gerichten vor.
Georg Renöckl hat sich durchgekostet.
Die schlechte Nachricht vorweg: Das im Titel versprochene Mammutrezept bleibt uns die Autorin genauso schuldig wie die Rezepte für gefüllten Siebenschläfer, Flamingozunge und pikant gewürzte Leber von der Nachtigall, die die Küchensklaven eines römischen Haushalts Tausende Jahre später servieren werden.
Die längste Zeit wurden Kochrezepte nicht aufgeschrieben, doch Uta Seeburg geht es bei den fünfzig Gerichten, die sie in ihrem lehrreichen und unterhaltsamen Streifzug durch die kulinarische Weltgeschichte beschreibt, ohnehin weniger um die Zubereitung als vielmehr um die Frage, was Speisen über die Gesellschaft aussagen, in der sie populär waren. So war ein vor knapp viertausend Jahren in eine Tontafel geritztes Rezept für einen Lammeintopf wohl Teil eines Versuchs der alten Babylonier, durch die Verschriftlichung aller Lebensbereiche Ordnung und Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Aus der Beschreibung von Festmählern der Etrusker zieht die Autorin Rückschlüsse auf die Gleichstellung der Frau in der spurlos verschwundenen antiken Kultur, aus alten jüdischen Traditionen rekonstruiert sie eine wahrscheinliche Speisekarte des letzten Abendmahls. Von der christlichen Eucharistie ist der Weg nicht weit zu äthiopischen Tischsitten, bei denen der Gast mit der bloßen Hand gefüttert wird. Das lässt sich freilich nicht jeder gefallen:
„Ich esse keine Suppe! Nein! / Ich esse meine Suppe nicht! / Nein, meine Suppe ess‘ ich nicht!“ schreit der Suppen-Kaspar im „Struwwelpeter“ von 1844 […]. Zum einen zeugt der Text von der ungläubigen Wut darüber, dass ein Kind seine Nahrung verweigert – unverständlich für jeden Erwachsenen, der noch die Ängste vor Hungersnöten kennt. Man kann den „Suppen-Kasper“ aber auch als frühe Fallstudie einer neu auftauchenden Krankheit lesen, ist sein Autor Heinrich Hofmann doch auch Arzt und Psychiater. Das pathologische Hungern bekommt 1870 einen Namen: Anorexia Nervosa.
Uta Seeburg schreibt nicht nur über das Essen, sondern auch darüber, was es bedeutet, wenn eben nicht gegessen wird, ob aufgrund von Krankheiten, Hungersnöten oder religiösen Geboten.
Gelegentlich wird die Nahrungsaufnahme auch vom Nationalstaat reglementiert und vereinnahmt: Jahrelang stritten Russland und die Ukraine über die Frage, als wessen Nationalgericht die Rote-Rüben-Suppe Borschtsch zu gelten hat. Identitätsstiftend wird ein Gericht freilich nicht nur durch Zutaten und Zubereitung, sondern auch durch die Art und Weise, wie man es zu sich nimmt.
Essen ist so eng mit unserer Existenz verknüpft, dass der Sprung zum Ritual, das zunächst einmal einen sich ständig wiederholenden Vorgang bezeichnet, ein kleiner ist. Dem afternoon tea mit seinen perfekten Küchlein und den aromatischen Feinheiten des teuren Heißgetränks fehlt diese bodenständige Anbindung, er erhebt sich vielmehr über jedwede Banalität bloßer Nahrungsaufnahme. Schließlich werden hier keine Lebens-, sondern Genussmittel gereicht. Die Teestunde ist in ihrem Ursprung ein absolutes Luxusritual – ein Gericht, das über identitätsstiftende Kraft verfügt, und zwar für eine Nation, die mit einem imperialistischen Selbstbewusstsein auftritt.
Das Gegenteil des imperialistischen Großbritannien ist wohl das abgeschottete Japan der Shogun-Zeit. Als die Amerikaner im 19. Jahrhundert das Reich gewaltsam für den Handel öffneten, konnten die kurz zuvor in ihre heute noch populäre Form gebrachten Sushi ihren Siegeszug um die Welt antreten. Viele der in Uta Seeburgs Buch präsentierten Gerichte haben weite Reisen hinter sich, wie auch der in Wien so zelebrierte Kaffee, oder wurden für Reisen erdacht, wie die Menüs des Orient-Express oder der Weltraum-Missionen. Ein Gefühl von Weltoffenheit zog 1955 mit einem besonderen Gericht in die Küchen Deutschlands ein: Ein Fernsehkoch erfand den Toast Hawaii.
Die Ananas ist dabei das in Dosen konservierte Sehnsuchtsobjekt, eine spießbürgerliche Aloha-Fantasie; in der exotischen Frucht steckt allerdings tatsächlich eine große Geschichte von neuen Welten, von Expeditionen und dem Fernweh der Daheimgebliebenen. Niemand anderes als Christoph Kolumbus entdeckt die Ananas für die westliche Welt. […] Im 17. Jahrhundert arbeiten die Niederländer in ihren botanischen Gärten und ersten Gewächshäusern an der Kultivierung der Ananaspflanze. Im 18. Jahrhundert zieht Großbritanniens Aristokratie nach und baut die Frucht in ihren Gärten an, eine kostspielige Angelegenheit: Die Schösslinge müssen in Gruben gepflanzt werden, die man mit Ziegelsteinen ausmauert und mit Glasscheiben bedeckt. Im Winter ziehen die Pflanzen in Gewächshäuser um, die mit Öfen beheizt werden. Auf den reich mit Früchten dekorierten Esstafeln gilt die Ananas als besonderes Prunkstück. Wer sie sich nicht leisten kann, leiht sie für einen Abend beim Obstlieferanten aus.
Die Erfindung der Konservendose führt zur Demokratisierung der aristokratischen Frucht und zu weiteren fragwürdigen Experimenten wie Steak Hawaii, Schnitzel Hawaii und Schinkensalat Hawaii. Über die Molekularküche und die neue nordische Küche gelangt Uta Seeburg auf ihrer kulinarischen Reise abschließend zum Essen in Zeiten der Pandemie mit ihren Kochexzessen und der überall erwachten Liebe zum Brotbacken, Fermentieren und Schrebergärtnern. Dass man den Einkauf auf dem Wochenmarkt oder beim Fleischer in der Gasse wieder aufs Neue zelebriert, stimmt die Autorin recht zuversichtlich, was die Zukunft nicht nur unserer Ernährung anbelangt:
Denn je mehr wir über unsere Nahrungsmittel erfahren, je bewusster wir ihren Geschmack und ihre Vielfalt genießen, desto verantwortlicher werden wir hoffentlich mit unseren essbaren Ressourcen umgehen. Und können am Ende mit dem, was wir essen, unsere Geschichte der Menschheit vielleicht doch noch zum Guten wenden.