Die letzten Tage Europas

Leider wieder schmerzhaft aktuell ist Franziska Grillmeiers Buch „Die Insel“. Hier noch meine Besprechung für den letzten Falter-Bücherfrühling:

Die letzten Tage Europas

Georg Renöckl in FALTER 12/2023 vom 24.03.2023 (S. 26)

Während Sie diese Rezension lesen, ertrinken gerade zwei Flüchtlinge im Mittelmeer. Vielleicht auch 73 oder 41, wer weiß das schon so genau, außer der FPÖ Salzburg, die mit ähnlichen Zahlenspielereien Angst vor „Illegalen“ schürt. Seit wann fürchten wir uns eigentlich vor den Schutzsuchenden, statt ihnen zu helfen? Warum sehen europäische Grenzschützer Kindern beim Ertrinken zu, statt sie zu retten? Und wann haben wir uns an die „hässlichen Bilder“ zu gewöhnen begonnen, die der damalige Außenminister Sebastian Kurz 2016 ankündigte?

Die Antworten darauf stehen in Franziska Grillmeiers Buch „Die Insel“. Die freie Journalistin aus Deutschland hat dafür Flüchtlingslager auf griechischen Inseln, aber auch provisorische Notunterkünfte an der kroatisch-bosnischen und der polnisch-belarussischen Grenze besucht. Ausgangspunkt ihrer Recherchen ist das Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Dem Zynismus vieler europäischer Entscheidungsträger im Umgang mit den Geflüchteten setzt sie profundes Fachwissen, Empathie und präzise Analysen entgegen. Zum Weinen ist einem beim Lesen dadurch freilich erst recht oft zumute.

Etwa, wenn Grillmeier von der aus Afghanistan geflüchteten Familie Mahmoodi berichtet, die ins Visier der Taliban geraten war. In einem Flüchtlingslager an der türkisch-iranischen Grenze bringt Maleka ein drittes Kind zur Welt, ein Kaiserschnitt ist nötig, die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. Im griechischen Lager Mavrovouni erneut schwanger, zündet sich die von der vorangegangenen Geburt Traumatisierte selbst an. Sie überlebt schwer verletzt. Statt psychologische Hilfe zu erhalten, wird sie als Brandstifterin angeklagt.

„Wenn den Leuten die Lager nicht passen, sollen sie wieder nach Hause gehen“, kommentiert der von Grillmeier befragte Polizeichef von Lesbos den Fall. „Nach Hause“, das hieße zurück zu den Taliban, die den ältesten Sohn der Familie bereits einmal entführt und nur gegen Lösegeld wieder herausgegeben haben. Das Leid der Familie Mahmoodi ist Kalkül: „Wenn diese Leute sehen, wie die Lebensbedingungen auf den Inseln sind, werden sie es sich zweimal überlegen, ob sie ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu kommen, oder ob sie nicht doch daheimbleiben“, zitiert Grillmeier den Vizechef der in Griechenland regierenden konservativen Nea Dimokratia, Adonis Georgiadis.

Wie kein zweiter Ort steht das 2020 abgebrannte Flüchtlingslager Moria für die Strategie der Abschreckung durch hässliche Bilder, die Europa nach der großen Fluchtbewegung von 2015 in die Tat umsetzte. 2018 mietete die Journalistin eine Wohnung auf der Insel, ohne zu wissen, dass diese für die kommenden Jahre zu ihrem Lebensmittelpunkt werden sollte.

„Als ich versuchte, die Ereignisse in diesen Tagen aufzuschreiben, rangen die deutschen Redaktionen noch mit der Frage, ob sie ein weiterer Text über Moria interessieren sollte oder nicht. Was hatte sich seit dem letzten Bericht verändert? Die Situation schien festgefahren, und die Lage der Flüchtenden und Inselbewohner:innen vor Ort war für viele auserzählt“, schreibt Grillmeier. Selten steckt so viel Medienkritik in einem einzigen Wort wie in diesem „auserzählt“.

Einige Reportagen Grillmeiers erschienen dann aber doch, etwa in der Schweizer Wochenzeitung WOZ, in der Zeit, der taz, der Süddeutschen Zeitung. Sie bilden den roten Faden dieses Buches, das aber viel mehr ist als nur eine Sammlung brillant erzählter Reportagen. Grillmeier erkannte früh, dass auf Lesbos und an vielen anderen Orten an der europäischen Außengrenze „der systematische Abbau des Rechts auf Asyl und die Aushöhlung rechtsstaatlicher Strukturen entlang der europäischen Grenzen in vollem Gange“ waren.

Mit ihren Reportagen und Berichten von 2018 bis 2022 protokolliert Grillmeier vier entscheidende Jahre, in denen in Europa eine tiefgreifende Veränderung stattfand. Wer erinnert sich noch an die Schlagwörter des Sommers von 2015, die nach dem Prinzip „Irgendwas mit Hope“ gebildet wurden? Die Hoffnung von damals ist längst ­Verzweiflung, Frust, Aggression, Scham oder Abstumpfung gewichen, je nach Situation und Standort. Europäische Werte wie Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte wurden an den Grenzen Europas stillschweigend und doch vor aller Augen außer Kraft gesetzt. Ständig neue hässliche Bilder führten zu immer noch hässlicheren Taten.

Freilich nicht von heute auf morgen, und auch das zeigt Grillmeiers Buch so deutlich: Es braucht viele kleine Schritte vom deutschen „Wir schaffen das“ bis zum deutschen Überwachungszeppelin, der über technisch hochgerüsteten Grenzanlagen schwebt. 2016 werden die Bewohner der Insel Lesbos wegen ihrer Hilfsbereitschaft noch für den Friedensnobelpreis nominiert. Zwei Jahre später verteilen sie Kekse nicht mehr an die Gestrandeten, sondern an die Grenzschützer. Bald darauf empfangen sie ankommende Flüchtlingsboote mit Stöcken und Tritten, um sie am Landen zu hindern. Wieder etwas später machen maskierte Männer Jagd auf Flüchtlinge, die es an Land geschafft haben, zerren sie auf Rettungsflöße und ziehen diese aufs Meer hinaus.

„Wieder brachten sie uns auf die Mitte des Meeres und durchsuchten uns“, beschreibt eine junge Mutter aus Kamerun einen dieser Pushbacks. „Ich musste meinen BH durchschneiden. Sie tasteten meine Vagina und meinen Anus ab, um zu sehen, ob dort Geld versteckt war. Dann zwangen sie mich auch, mein Baby auszuziehen. Es war sechs Monate alt. […] Einer der Männer warf das Kind in das andere Boot, so als würde er Müll wegwerfen.“ Als türkische Grenzschützer die auf dem Meer Treibenden retten, atmet das Kind nicht mehr, kann aber wiederbelebt werden. „Ich bin doch von zu Hause weggelaufen, aus Kamerun, mit einem Kind in meinem Bauch, weil das Kind dort in Gefahr war“, klagt die Mutter. „Wenn ich hierherkomme, tue ich das, weil ich Sicherheit für mein Kind will, aber auch hier will man mein Kind töten.“

Was man 2016 noch empört als völlig übertriebene Schwarzmalerei zurückgewiesen hätte, wundert uns 2023 längst nicht mehr. Die an Europas Grenzen begangenen Verbrechen sind „keine bloße Aushebelung von Recht mehr“, urteilt Grillmeier, vielmehr habe eine „Verrechtlichung des Unrechts“ stattgefunden.

Die Journalistin erklärt die Eskalation der Gewalt gegenüber Flüchtlingen sowohl aufseiten der Behörden als auch durch lokale Schlägerbanden mit der Planlosigkeit der europäischen Politik. Man ließ die Sache laufen, statt die Krise zu managen. Dafür überwies Europa hunderte Millionen Euro für das sogenannte „Migrationsmanagement“ an Griechenland. Den Milliarden, die sich die EU ihre von Rüstungskonzernen auf den neuesten Stand gebrachten Grenzschutzanlagen mittlerweile kosten lässt, steht das Elend der Menschen in den Lagern gegenüber. Als 2020 die Pandemie ausbrach, mussten sich in Moria 167 Menschen eine Toilette teilen. Die Müllabfuhr funktionierte nicht, für fünfköpfige Familien waren drei Quadratmeter Zeltboden vorgesehen. Das einzige menschenwürdige Lager, das Franziska Grillmeier auf Lesbos kennenlernt, wird von den Behörden kurz nach dem Brand von Moria geschlossen: Die Bilder, die es produziert, sind nicht hässlich genug.

Franziska Grillmeier liefert in „Die Insel“ Hintergründe, Zahlen und Fakten, die es braucht, um die Tragödie zu verstehen, die sich an den Rändern Europas abspielt. Vor allem aber erweist sie sich als große Erzählerin, die anhand von Einzelschicksalen historische Wendepunkte erlebbar macht. Ein wenig fühlt man sich nach der Lektüre des Buches wie die Frau aus Somalia, die Grillmeier über die Jahre begleitet hat und die eines Tages endlich im Rückblick von der Insel sprechen darf: „Die Zeit hier hat mein Herz gebrochen, aber meinen Blick auf die Welt geschärft.“

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