Der letzte seiner Art

Meine Rezension des Romans von Sibylle Grimbert für Ö1/Ex libris. Ein Erratum gleich zu Beginn: Das Naturhistorische Museum hat einen Riesenalk, der auch den Online-Auftritt der Vogelsammlung schmückt. Das ausgestopfte Tier ist aber zumindest derzeit nicht ausgestellt.

Der Kaiserpinguin ist drauf und dran, dem Eisbären seinen Rang als trauriges Maskottchen des Klimawandels abzulaufen. Da das antarktische Eis durch die steigenden Temperaturen brüchiger wird, gelingt es Elterntieren nicht mehr, Küken großzuziehen. Die Kolonien schrumpfen dramatisch.

Seinen Namen hat der auf der Südhalbkugel lebende Pinguin von einem anderen flugunfähigen Vogel geerbt, dem er äußerlich zwar ähnlich sieht, mit dem er aber nicht verwandt ist: Dem einst auf der Nordhalbkugel weitverbreiteten Riesenalk, der als einziger die wissenschaftlich korrekte Bezeichnung „Pinguinus“ trägt. Oder besser: trug, denn der Riesenalk ist längst ausgestorben, genauer gesagt, ausgerottet worden. Der seit Jahrtausenden von der indigenen amerikanischen Bevölkerung bejagte Vogel wurde mit zunehmendem Schiffsverkehr zwischen Europa und Nordamerika zu einer immer beliebteren Jagdbeute der Seeleute, da er zwar ein geschickter Schwimmer war, sich auf dem Land aber nur ungeschickt fortbewegte. Fleisch und Eier waren bei Matrosen als Proviant beliebt, die feinen Daunen eine begehrte Handelsware. Da Alkweibchen pro Jahr nur ein Ei legten, wurden schon im späten 18. Jahrhundert Stimmen laut, die vor der Ausrottung der Spezies warnten. Diese Warnungen beschleunigten das Aussterben jedoch, da der Marktwert von Körperteilen des Alks dadurch in die Höhe schnellte. Auch die vielen im 19. Jahrhundert gegründeten naturhistorischen Museen europäischer Städte trugen das ihre zur Ausrottung der Art bei, da sie sich angesichts der sinkenden Bestände alle noch schnell ein ausgestopftes Exemplar sichern wollten und Mitarbeiter auf die Jagd nach den letzten Alken in den Nordatlantik schickten.

Einen solchen Zoologen in Torschlusspanik lässt die französische Autorin Sibylle Grimbert in ihrem Roman Der letzte seiner Art im Auftrag des Naturkundemuseums von Lille in Französisch-Flandern nach Norden reisen. Auguste, von allen nur Gus genannt, wird Zeuge der Vernichtung einer Kolonie von Riesenalken auf der steilen Felseninsel Eldey, unweit von Island. Er kostet eher widerwillig vom fetten Alkfleisch, das ihm die Seeleute wenig später anbieten, ist aber ingesamt zufrieden: Er konnte sogar ein lebendes Tier ergattern, das verletzt vor den Jägern zu fliehen versuchte. Zurück in seinem Haus auf einer schottischen Insel, wo er im Rahmen seiner Forschungen Quartier bezogen hat, fertigt er möglichst schnell Zeichnungen von dem erbeuteten Vogel an, ehe dieser – wie in Gefangenschaft zu erwarten – verenden wird. Doch das Tier stirbt nicht, es verändert sich. Oder ist es der Forscher?

„Während Gus also forschend in das Auge eines durch und durch instinktgeleiteten Tieres blickte, hatte er dennoch das Gefühl, dass hier ein denkendes, mutiges Wesen vor ihm stand, ein Wesen, das die Rätsel und Gefahren zu bewerten schien, die er, Gus, für sein Leben darstellte. Und das alles nur wegen einer halbwegs hellen Iris, wie er sie schon hundertfach in den Augen von Freunden gesehen hatte, ohne je darüber nachzudenken. Vielleicht machte ihm auch nur die Einsamkeit langsam zu schaffen, und dass ein Auge ihn derart beeindrucken konnte, lag einfach daran, dass dieses Auge lebte und ihn, Gus, wahrnahm.“

Dem Forscher wird bewusst, dass er mit der Gefangennahme des Vogels Verantwortung übernommen hat. Er ignoriert die Anweisung seines Museums, den Alk so schnell wie möglich nach Lille zu bringen, pflegt ihn gesund und lässt ihn an einer Leine im Meer schwimmen. Als er ihm den Namen Prosperous gibt, kurz Prosp, wird aus dem Forschungsgegenstand ein Gegenüber, aus Forschung Beziehung. Gus beschließt, Prosp wieder zu Artgenossen zurückzubringen und entdeckt, dass alle bekannten Kolonien ausgerottet wurden. Doch es gibt Berichte über vereinzelte Sichtungen in entlegenen Gebieten. Die Rettung der Spezies wird zu Gus‘ Obession, der Riesenalk zum Lebenspartner des Forschers, auch als dieser längst eine Familie gegründet hat. Gus entdeckt, dass nicht nur Prosp der letzte seiner Art ist, sondern auch er selbst: „Sein Schicksal war ungewöhnlich und umso unglaublicher, als sich mit ihm ein ganz normaler Mensch einem außergewöhnlichen Ereignis gegenübergestellt sah: dem Ende einer Spezies. Und so sehr er auch danach suchte, es gab keinen einzigen Bericht eines anderen Menschen, der etwas Ähnliches erlebt hatte. […]. So wusste man zum Beispiel nichts über das letzte Mammut, und Gus hätte darauf gewettet, dass sich damals kein einziger Jäger gefragt hatte, warum ihm keine Mammuts mehr über den Weg liefen. Populationen schrumpften langsam, und die Erinnerung an sie verblasste. Wie sollte man so etwas denn auch begreifen? […]  Prosp war da. Vor seinen Augen.“

Vergeblich kämpft Gus gegen seine Gewissensbisse, damals nichts gegen das Massaker an Prosps Artgenossen unternommen zu haben. Er zählt zur ersten Generation, die eine Welt ohne den Riesenalk erlebt und zur letzten, die seine Ausrottung hätte verhindern können. Trotz dieser und zahlreicher weiterer Parallelen zu unserer Epoche des massenhaften Verschwindens von Tierarten wäre es ein Fehler, in Sybille Grimberts Roman ein Lehrstück zu sehen oder nach einem moralisch erhobenen Zeigefinger zu suchen. Die Faszination von Der letzte seiner Art entsteht vielmehr durch die gründliche Recherche und das große Einfühlungsvermögen, die diese Erzählung auszeichnen. Die auf den ersten Blick so unwahrscheinliche Annäherung zwischen dem Forscher und dem Vogel, die schließlich zu einer Partnerschaft wird, vermittelt Grimbert überaus plausibel, was den realen Hintergrund des Romans – die von zeitgenössischen Forschern akribisch dokumentierte Ausrottung der Spezies – umso bedrückender wirken lässt.

Und sollten Sie jetzt einen richtigen Riesenalk sehen wollen: Das Wiener Naturhistorische Museum hat sich 1844, als die letzten Alke vor Island totgeprügelt wurden, rechtzeitig ein Exemplar für seine Vogelsammlung gesichert.

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