Vladimir Vertlib: Die Heimreise

Vladimir Vertlibs Hommage an seine Mutter, die sich als junge Frau auf die beschwerliche Reise von Kasachstan nach Leningrad machen muss und in dem riesigen und unfertigen Land, dem der Stalinismus noch in den Knochen steckt und in dem niemand so recht an Chruschtschows Tauwetter zu glauben scheint, allerlei erhellende, gefährliche und absonderliche Begegnungen macht.

Meine Besprechung auf Ö1-Ex libris.

Im Sommer 1956 ist Stalin seit gut drei Jahren tot. Am „Sozialismus in einem Land“, den er nach Lenins verschobener Weltrevolution aufbauen wollte, wird auch unter der Herrschaft Nikita Chruschtschows fleißig weitergebaut. Nur mit den Toiletten, um ein Leitmotiv von Vladimir Vertlibs neuem Roman vorwegzunehmen, hapert es noch.

Mit dem Rest freilich auch. Zahlreiche neue Städte existieren zwar bereits auf Postkarten, in der Realität sind sie aber noch riesige Baustellen. Bahnlinien führen quer durchs Niemandsland von einem Nirgendwo zum nächsten, wobei nie klar ist, ob überhaupt ein Zug fährt. Hat man besonderes Pech, ereilt einen die strahlende sowjetische Zukunft in Form der radioaktiven Wolke eines Atomwaffentests, den es offiziell nie gegeben hat.

Mitten drin in dem so unfertigen wie lebensgefährlichen Sowjetreich ist die Leningrader Mathematikstudentin Lina unterwegs zu ihrem im Sterben liegenden Vater. Sie leistete gerade Arbeitsdienst auf einer Sowchose im fernen Kasachstan, als sie die Nachricht erreichte. Dass die Reise vom asiatischen in den europäischen Teil der Sowjetunion wohl um einiges länger dauern wird als die veranschlagten sechs Tage, stellt sich schon zu Beginn heraus, als ein sonst zur Schädlingsbekämpfung eingesetztes Flugzeug Lina zur nächsten Stadt mit Bahnanschluss bringen soll.

„Sie sollten Mund und Nase mit einem Taschentuch oder einem Kopftuch bedecken, wenn Sie mitfliegen“, meinte Klarissa Matwejewena. „Was Wanjka dort versprüht, ist pures Gift. Wenn er nicht so viel saufen würde, hätte ihn das Gift längst umgebracht. Aber die Alkoholmengen, die er zu sich nimmt, neutralisieren jede andere Substanz und töten alle Bazillen.“ „Vor allem dieser selbstgebrannte Fusel, den er in sich hineinschüttet. So etwas trinke nicht einmal ich“, meinte ihr Mann. „Manchmal kommt es mir vor, als würde er auch das Kerosin trinken, mit dem sein Flugzeug betankt wird.“
„Jaaa“, murmelte der Stellvertretende Direktor nachdenklich, während er seine Pfeife stopfte. „Als Wanjka aus dem Krieg zurückkam, war er nicht mehr derselbe wie früher. Jähzornig, unberechenbar. Das ist er sogar, wenn er nüchtern ist. Was allerdings sehr selten der Fall ist. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Fräulein, fliegen kann er noch, auch wenn er ein Säufer ist und nur mehr ein Auge hat.“

Subtiler Humor ist Vladimir Vertlibs Sache eindeutig nicht, doch er erzählt mit spürbarer Lust am Tragikomischen und Skurrilen von der Reise Linas, die seiner eigenen Mutter nachempfunden ist. Diese verpasst zu ihrem Glück die Mitfluggelegenheit und wird stattdessen zu einem Bahnhof gebracht, der allerdings nur als Plan existiert. Eine Bauruine und die Fundamente eines noch zu errichtenden Dorfes sind immerhin schon da, die Gleise auch, und mit einem überraschenderweise tatsächlich durchfahrenden Zug beginnt ein pittoreskes Railroadmovie durch eine Sowjetunion voll bürokratischer Absurditäten, menschlicher Unzulänglichkeiten und kaputter Toiletten. In den unermesslichen, von Ruinen gescheiterter Bauprojekte zugestellten Weiten trifft Lina da und dort auf finstere Milizionäre oder KGB-Agenten, doch häufiger auf Menschen, die das Herz am rechten Fleck haben, gemeinsame Sache gegen die leicht auszutricksende Obrigkeit machen und sich in unbelauschten Momenten gegenseitig ihre Lebensgeschichten erzählen. Gemeinsam ist ihnen allen dabei ein gewisser Hang zum umständlichen, mitunter dozierenden Erzählen.

„Zuerst wollte ich nicht darüber reden. Wie ihr euch denken könnt, bin ich vorsichtig und traue grundsätzlich niemandem. Aber dann dachte ich mir: Scheiß drauf, das halbe Land ist auf dem Weg aus den Lagern irgendwohin – nach Hause oder umgekehrt, weit weg, wo uns niemand kennt. Unser „großer Führer und Lehrer“ ist zum Teufel gegangen und wird nun hoffentlich in der Hölle am Spieß gebraten. Die Zeiten haben sich geändert. Und wenn nicht, so habe ich keine Lust und keine Kraft mehr, mich zu fürchten. Es kommt, wie’s kommt.“

Der Roman, der sich in seinen besten Passagen wie eine Hommage an den Widerstandsgeist der Bewohner von Vladimir Vertlibs Geburtsland liest, zerfällt in eine Vielzahl von nur lose verknüpften Bildern und Anekdoten. Auch die Fluchtgeschichte einer jungen Frau, mit der sich Lina anfreundet und die für eine gewisse Spannung sorgt, ändert daran wenig: Zu gestelzt und unnatürlich wirken die Dialoge, in denen sich die Frauen über ihre Lebensgeschichten austauschen und in die sich obendrein noch geschwätzige Mitreisende einmischen, wie etwa der ehemalige Lagerhäftling Ivan.

„Ein Professor für Geschichte, den ich im Lager getroffen habe, ein hochgebildeter Mensch, erzählte mir, in der Zarenzeit hätten Kinder aus der Unterschicht nicht ins Gymnasium gehen dürfen, weil Zar Alexander der Dritte gemeint hatte, nicht jede Wäscherin oder Putzfrau müsse ihren Sohn unbedingt studieren lassen, und jetzt, in der Sowjetzeit, sind die Direktoren, Parteisekretäre sowie ihre Söhne und Töchter die besseren Menschen. Sie fahren ins Ausland, leben in tollen Datschas und Hotels, zu denen wir, einfache Sterbliche, keinen Zutritt haben, können in Spezialgeschäften für Devisen Sachen kaufen, von denen wir nicht einmal träumen, weil wir nicht wissen, dass es sie überhaupt gibt. Während des Krieges hatten ihre Söhne wichtige Arbeiten an Schreibtischen oder im Diplomatischen Dienst zu erledigen, während wir an der Front krepieren durften.“

Angesichts dieser doch recht banalen Klage über die Dysfunktionalität der Diktatur des Proletariats platzt schließlich sogar Ivans Gesprächspartnerin, der ebenfalls ständig vor sich hin quasselnden Wanda, der Kragen. Sie unterbricht Ivan mit einem genervten „Das weiß ich doch alles!“. Es hätte dem Roman gutgetan, wäre sein Erzähler mit einigen seiner allzu redseligen Figuren ähnlich streng gewesen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.