Freiheit, Rausch und schwarze Katzen

Viele sehen sich heute als Teil einer digitalen Bohème, andere verstehen sich als bourgeoise Bohémiens, die wiederum andere leidenschaftlich hassen. Aber was bedeutet „Bohémien“ eigentlich? Der Schweizer Historiker und Ausstellungmacher Andreas Schwab hat sich auf die Spur des Begriffs und einiger seiner prominenten Vertreter gemacht. Meine Besprechung seiner Bohème-Geschichte „Freiheit, Rausch und schwarze Katzen“ für Ö1-Kontext:

Kaum jemand eignet sich so gut als Feindbild wie der Bobo – was wohl auch daran liegt, dass niemand genau sagen kann, was damit eigentlich gemeint ist. Der Begriff ist schließlich nicht nur in sich widersprüchlich, sondern auch ziemlich schwammig. Während das erste „Bo“ – der Bourgeois – seit Karl Marx für einen Kapitalisten oder wohlhabenden Bürger steht, entzieht sich das zweite „Bo“ des Bobos der eindeutigen Definition. Für Marx war der „Bohémien“ ein Angehöriger des von ihm nicht besonders geschätzten Lumpenproletariats. In Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“ oder im gleichnamigen Chanson von Charles Aznavour ist er ein Maler oder Dichter, dem die Hingabe an seine Kunst wichtiger ist als Konformität und materieller Wohlstand.

Auf die Spuren der historischen Bohème und ihrer Wirkungsgeschichte hat sich der Schweizer Historiker Andreas Schwab mit seinem Buch Freiheit, Rausch und schwarze Katzen. Eine Geschichte der Boheme begeben, Georg Renöckl ist ihm gefolgt.

Sie haben keine feste Anstellung und zelebrieren ihre Ungebundenheit mit kurzfristigen Liebesbeziehungen und häufigen Wohnungswechseln. In gewisser Weise verhalten sie sich, als ob sie nicht erwachsen wären. Allein durch ihre Lebensweise protestieren sie gegen die meritokratischen Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft. […] Nichts ist ihnen so suspekt wie das Erfolgsstreben; sie kokettieren mit dem Scheitern. Die Auffassung, dass Geld den Charakter verderbe, ist ihnen geläufig. Also verprassen sie eine unverhofft zugefallene Erbschaft oder eine hohe Honorarzahlung so schnell wie möglich, indem sie ihre Freundinnen und Freunde zu einer ausgelassenen Feier einladen.

Das hier beschriebene Bohème-Klischee stammt aus dem 1849 populär gewordenen Bühnenstück Scènes de la vie de Bohème des Pariser Autors Henri Murger, auf dem auch Giacomo Puccinis 1896 uraufgeführte Oper La Bohème beruht. Andreas Schwab spürt jedoch weniger dem Klischee nach, sondern skizziert die Geschichte der Bohème anhand der Lebensläufe einiger ihrer realen Vertreter in Paris, Berlin und München, etwa Edvard Munch, August Strindberg, oder Franziska zu Reventlow. So naiv-idealistisch wie bei Murger und Puccini sind diese Bohémiens keineswegs: Sie denken vielmehr ständig über den Sinn und Zweck ihres Tuns nach und suchen bewusst den Skandal.

Diese exhibitionistische Form der Existenz wirkt gerade im Zeitalter von Social Media seltsam vertraut. Die Boheme war viel mehr als bloß eine Lebensform; sie war eine dramatisierte Spielart einer modernen Lebensführung, die im Laufe der Zeit in die Mitte der Gesellschaft diffundierte.

Die Wiege dieser Lebensform steht im Pariser Quartier Latin, in dessen Mansardenzimmern und Kaffeehäusern die ersten Bohemiens in den 1840er Jahren lebten und arbeiteten. Jahrzehnte später entsteht auch in Berlin eine Bohème, deren Zentrum das Weinlokal „Zum schwarzen Ferkel“ ist. Dort lieferten sich Männer mit starkem Ego wie Munch, Strindberg und der polnische Autor Stanislaw Przybyszewski, „Stachu“ genannt, geschickt inszenierte öffentliche Hahnenkämpfe.

Möglicherweise ist Przybyszewski [Pschibischäwski] gerade deswegen eine archetypische Persönlichkeit der Boheme. Sein romanhaftes Leben überstrahlt sein Werk, oder anders gesagt: Als Selbstdarsteller seiner Rolle als radikaler Bohemien läuft er sich selbst als Künstler den Rang ab. […] Es hieße aber einer Figur wie Przybyszewski auf den Leim zu gehen, würde man sein Verhalten als „authentischen“ Ausdruck seines möglicherweise dubiosen Charakters betrachten. Die Sache liegt komplizierter, denn im Verhalten „Stachus“ und anderer Bohemiens ist immer viel Pose mit dabei. Doch auch eine Pose muss, soll sie nicht leer bleiben, mit Persönlichkeit ausgefüllt werden.

Frauen sind in der Bohème von Anfang an in der Minderzahl, woran auch berühmte Einzelerscheinungen wie George Sand nichts ändern. In Berlin sticht vor allem die norwegische Malerin Oda Krohg heraus, die Edvard Munch im Kreis ihrer Ehemänner und Liebhaber porträtierte. Auch in München, das sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zur Großstadt mausert, etabliert sich eine eigene Bohème rund um den Autor Frank Wedekind und das Kabarett Zu den elf Scharfrichtern. In der bayrischen Hauptstadt ist die norddeutsche Malerin und Autorin Franziska zu Reventlow die prominenteste weibliche Bohémienne. Sie tritt gegen die Frauenbewegung auf, die sie als Feindin der Erotik empfindet, und kämpft als Alleinerziehende für ein stärkeres Mutterrecht. Über die Frauen der Bohème schreibt Schwab:

Sie befreien sich aus alten Zwängen und Konventionen und wählen das Risiko. Immer mehr von ihnen lassen sich nicht abspeisen mit dem lauen Versprechen der bürgerlichen Beziehungsarrangements: Sie verzichten auf materielle Versorgung um den Preis eines erstarrten emotionalen Beziehungslebens. Lieber verausgaben sie sich auf eigene Verantwortung erotisch und intellektuell.

Etwa zeitgleich mit den Münchner Elf Scharfrichtern und dem Berliner Schwarzen Ferkel erlebt das Cabaret Le chat noir am Pariser Montmartre seine große Zeit. Die Montmartre-Bohème ist die Epoche des Absinth und des kleinwüchsigen Malers Henri de Toulouse-Lautrec, sowie der Cabarets und Prostituierten, die bis heute den Ruf des historischen Pariser Vergnügungsviertels prägen.
Die Weltkriege überlebt die Bohème nur in subkulturellen Nischen. Schwab sieht in den Bohémiens dennoch role models, deren Lebensstil sich durchgesetzt habe:

Kaum jemand hat sich so um das Gemeinwesen verdient gemacht wie eben die Boheme. Denn in ihr wurden Selbsttechniken entwickelt und gelebt, welche zur gesellschaftlichen Liberalisierung, zur Akzeptanz verschiedenster Lebensmodelle bis hin zu Rechten von Minderheiten führten.

Die These, dass ausgerechnet die individualistischen Bohémiens die Gesellschaft so nachhaltig prägten, ist kühn. Die angesprochenen gesellschaftlichen Veränderungen sind schlicht zu mannigfaltig, als dass sie sich auf das „Diffundieren“ einer einzelnen, noch dazu marginalen Strömung zurückführen ließen. Deren Faszination ist freilich ungebrochen, der Begriff „Bohème“ für das Benennen heutiger Lebenswelten nach wie vor attraktiv. Je größer der Konformitätsdruck, umso stärker steigt wohl auch die Sehnsucht nach alternativen Lebensentwürfen. Anregungen dafür finden sich in Andreas Schwabs lesenswerter Bohème-Geschichte zuhauf.

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