Süßes Sterben, Wein und Kekse: Die Schlacht am Chemin des Dames

Dieser Tage nicht uninteressant zu bedenken: Wie das deutsch-französische Verhältnis vor hundert Jahren aussah. Für die Presse bzw. das Spectrum habe ich meine Reportage vom Chemin des Dames auf den neuesten Stand gebracht:

Vom süßen und vom ehrenvollen Sterben

Da die Prinzessinnen Adélaïde und Victoire gelegentlich ihre alte Gouvernante im nordöstlich von Paris gelegenen Château de la Bove besuchen wollten, wurde der holprige Anfahrtsweg über eine Hügelkette für die königliche Kutsche neu gepflastert. Die Hügel tragen seither den charmanten Namen „Damenweg“, Chemin des Dames. Die beiden Töchter Ludwigs des Fünfzehnten, die auf ihrer Flucht vor Revolution und Guillotine wenig später noch viel beschwerlichere Wege zurücklegen sollten, gerieten bald in Vergessenheit. Der Name Chemin des Dames blieb dem Gebiet erhalten.

Die Gegend ist so reizvoll wie ihr Name. Der Blick auf die bewaldeten Hügel tut dem Auge nach zermürbender Fahrt durch monotone Ebenen gut, kleine Dörfer liegen idyllisch an den Hängen, verwitterte Straßenschilder warnen vor Rutschgefahr durch Zuckerrüben auf der Fahrbahn. Sieht man genauer hin, erkennt man Einschusslöcher in den wenigen erhaltenen alten Mauern der größtenteils rekonstruierten Dorfkirchen. Vor ziemlich genau hundert Jahren blieb hier sprichwörtlich kaum ein Stein auf dem anderen. Der Chemin des Dames war 1917 eines der mörderischsten Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs.

Das strategische Interesse des Platzes ist offensichtlich. Vom Kamm aus dominiert man das umliegende Flachland der Champagne, der Picardie und der Ile de France. Bei ihrem steckengebliebenen Angriff auf Frankreich zu Beginn des Krieges brachten die Deutschen die Hügel unter ihre Kontrolle. Alte Forts aus dem 19. Jahrhundert wurden wieder instandgesetzt, eine Zuckerraffinerie zur überirdischen, ein alter Steinbruch zur unterirdischen Festung ausgebaut, „Drachenhöhle“ genannt. Ausgerechnet hier wollte der französische Oberkommandierende General Nivelle im April 1917 die deutsche Front durchbrechen und damit den Krieg innerhalb von achtundvierzig Stunden beenden. Eine Million Soldaten und die größte Konzentration an Kanonen des ganzen Krieges sollten die Deutschen aus Zuckerfabrik und Drachenhöhle vertreiben. Tagelanges Artilleriefeuer, Regen und Schneefall hatten das Gelände, das die französischen Soldaten bei ihrem Sturmangriff am 16. April überwinden mussten, in eine schlammige Mondlandschaft verwandelt. Die deutschen MG-Stellungen waren jedoch intakt geblieben. An die 200.000 Franzosen fielen bei einer zwei Monate andauernden Serie erfolgloser Angriffe auf die deutschen Befestigungsanlagen. Aufstände in der französischen Armee waren die Folge. Hunderte Todesurteile wurden gefällt, der Großteil davon in lange Haftstrafen umgewandelt. Bei dreiundvierzig willkürlich ausgewählten Soldaten verhinderte General Pétain, Sieger von Verdun und neuer Chef der französischen Armeen, die Begnadigung. Erst im Oktober 1917 gelang durch die Schlacht von Malmaison die vorübergehende Rückeroberung des Chemin des Dames.

Ein sinnloses Gemetzel zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, ist das nicht Schnee von gestern? Nicht in Frankreich, wo die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, der dort meist mit dem Ehrentitel „Grande guerre“, „Großer Krieg“, bedacht wird, nie verblasst ist. Vor etwa zehn Jahren, auf dem Weg zur Drachenhöhle, die heute ein Museum beherbergt, bin ich an einem sonnigen Oktobersonntag zufällig im Dorf Vailly sur Aisne zu einer martialisch wirkenden Gedenkveranstaltung auf dem Soldatenfriedhof zurechtgekommen. Reden wurden gehalten, moderne Soldaten und solche in Originaluniformen des Ersten Weltkriegs paradierten, Veteranen marschierten mit Fahnen auf, man sang die Marseillaise. Was man genau feiert? „Den Sieg vom Oktober 1917“, antwortete mir ein mit Orden üppig behängter Festteilnehmer. Das Gedenken an die Schlacht vor neunzig Jahren war für das Dorf ein Volksfest, die Stimmung heiter und nachdenklich zugleich. Nach der Zeremonie gab es Wein und Kekse, die Fahnen wurden eingerollt, man posierte mit den Darstellern der historischen Soldaten, ließ sich die Rangabzeichen auf den Uniformen erklären und fachsimpelte über die unpraktischen Wickelgamaschen. Über den Krieg sprachen die Bewohner von Vailly, als wäre er erst vor Kurzem zu Ende gegangen. Eine kleine Gruppe diskutierte hitzig über General Nivelle, den Verantwortlichen für die Niederlage vom Frühling 1917. Dass er nie zur Verantwortung gezogen wurde, während die füsilierten Soldaten heute noch immer nicht offiziell rehabilitiert sind, empörte die Gruppe. Es habe sich nämlich nicht um einen Aufstand gehandelt, sondern um einen Streik. Die Befehlsverweigerer hätten sich nicht geweigert, das Land zu verteidigen, sondern sich für eine militärisch sinnlose Offensive zu opfern. Mir fehlten die Detailkenntnisse, um mitreden zu können, doch mich berührte die Ernsthaftigkeit, mit der die Bewohner des Dorfes die damals neunzig Jahre zurückliegenden Ereignisse verstehen wollten. Viele Männer hatten Kriegsmedaillen und Orden an die Anzüge geheftet, auf den meisten stand „Algerien“. Man war sichtlich stolz auf das Dorf, in dem während des Weltkriegs tausende Verletzte medizinisch erstversorgt wurden, auf die Leistungen der Urgroßeltern, die das in Trümmern liegende Vailly wieder aufgebaut hatten, und vor allem natürlich auf die siegreichen Poilus, die „Behaarten“, wie man in Frankreich die Soldaten des Ersten Weltkriegs nennt, die sich in den Gräben nicht rasieren konnten und entsprechend bärtig von der Front zurückkamen.

Jonathan, ein siebzehnjähriger Schüler, erzählte von seinem Ururgroßvater. Der war bei Kriegsausbruch gleich alt wie er heute gewesen und hatte drei Jahre in den Schützengräben aller möglichen Schlachtfelder überlebt. Am 23. Oktober 1917, mit zwanzig Jahren, starb er am Chemin des Dames im deutschen Maschinengewehrfeuer. Jonathans Vater hatte die Geschichte des Vorfahren erst wenige Jahre zuvor erforscht, gemeinsam hatten sie die vielen Soldatenfriedhöfe der Gegend nach dem Grab abgesucht und es letztendlich gefunden. Jonathan sprach mit hörbarem Stolz über seinen jungen Urahnen, der für Frankreich gefallen war.

Ich kenne in Österreich niemanden, der stolz auf den Heldentod eines seiner Vorfahren für Kaiser, Gott und Vaterland ist. In Frankreich ist die Epoche des Ersten Weltkriegs viel näher. Der Krieg bedeutete für die siegreiche Republik nicht den gleichen Bruch wie für die nach ihrer Niederlage zerteilte Habsburgermonarchie, deren Schicksal auf Schlachtfeldern besiegelt wurde, die heute alle im Ausland liegen. Die Nachkriegszeit war in Frankreich nicht von Elend und Bürgerkrieg geprägt, am Trauma des Zweiten Weltkriegs muss man sich nicht im selben Ausmaß abarbeiten wie im Land der Täter.

Vielleicht ist es deswegen möglich, den entsetzlichen Spruch „Dulce et decorum est pro patria mori/ Süß und ehrenvoll ist’s, fürs Vaterland zu sterben“ auf eine Säule inmitten eines französischen Soldatenfriedhofs zu schreiben. Ich glaube nicht, dass das in Österreich ginge. Ist hierzulande die Sensibilität größer oder die Wurstigkeit? Für uns beginnt am 11. November der Fasching. In Frankreich ist der Jahrestag des Waffenstillstands von 1918 ein staatlicher Feiertag mit Militärparade auf den Champs Elysées. Die Zeitungen und Magazine widmen sich alljährlich Anfang November ausführlich dem Krieg und der Erinnerung daran. Vor knapp zwanzig Jahren löste der damalige Premierminister Lionel Jospin eine Polemik aus, indem er die offizielle Rehabilitation der Soldaten forderte, die den süßen Tod beim Angriff auf die Zuckerfestung des Chemin des Dames verweigert hatten. Jospin wurde rasch zurückgepfiffen, die Zeit sei noch nicht reif für eine Entscheidung dieser Tragweite, hieß es damals. Sie ist es offenbar noch immer nicht: Im Frühjahr 2016 scheiterte ein Gesetzesentwurf in der Nationalversammlung, der die Rehabilitierung aller 918 im Ersten Weltkrieg „pour l’exemple“, also zur Abschreckung standrechtlich erschossenen Soldaten forderte.

Die Begründungen für die vor allem in der ersten Phase des Weltkriegs verhängten Todesurteile waren vielfältig, sie reichten von der Beleidigung eines Offiziers über Selbstverstümmelung oder unerlaubtes Zurückweichen vor dem Feind bis zu Befehlsverweigerung und Desertion. „Die Militärführung hat Maßnahmen ergriffen, um Frankreich, die Heimat, die Republik zu retten! Man kann der Armee nicht vorwerfen, dafür gesorgt zu haben, die Front zu stabilisieren“, argumentierten Gegner des von linken Parteien eingebrachten Gesetzesentwurfs. Man könne fallweise vorgehen, wenn die Standgerichte nachweislich falsch lagen. Etwa vierzig Urteile wurden bisher aufgehoben, die meisten unmittelbar nach dem Krieg. Nach hundert Jahren ist die Einzelfallprüfung kaum noch möglich. Das Argument, wonach sich nicht nur die befehlsgemäß Gefallenen heldenhaft verhalten haben konnten, sondern auch diejenigen, die sich gegen den absurden Horror der Menschenmaterialschlachten auflehnten, verfing nicht. Zu groß schien der Parlamentsmehrheit die Gefahr, eine kollektive Rehabilitation könnte auch Hingerichtete betreffen, „die sie nicht verdienen“. Immerhin wurde im vergangenen November auf Initiative von Präsident François Hollande im Militärmuseum ein Saal eröffnet, der dem Andenken der Opfer der Militärjustiz gewidmet ist.

Von außen betrachtet mag der heute noch leidenschaftlich geführte Streit um die Ehre der Füsilierten übertrieben anmuten. Er zeigt aber auch die immense Bedeutung, die die Pflege des nationalen Gedächtnisses in Frankreich hat. „Die Erinnerung ist zerbrechlich und verschwindet schnell, wenn man nicht auf sie achtgibt. Man muss sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit erneuern“, sagte der Staatssekretär für Kriegsveteranen im Frühjahr 2007 bei einer Gedenkfeier am Chemin des Dames. Die Gelegenheit des Hundert-Jahr-Jubiläums wird ausgiebig genützt: 450.000 Euro beträgt das Budget für zahlreiche Veranstaltungen, die zwischen März und Oktober 2017 an die Schlachten vor genau hundert Jahren erinnern werden.

Wie heftig die Emotionen in Frankreich heute noch sein können, wenn es um den Ersten Weltkrieg geht, zeigte auch der makabre Wettlauf, den sich zwei Greise vor wenigen Jahren nolens volens liefern mussten. 2005 dekretierte Präsident Chirac, dass der letzte Poilu ein Staatsbegräbnis erhalten werde. Zwei von ihnen waren damals noch am Leben: Lazare Ponticelli, der auch den Gebirgskrieg Italiens gegen Österreich-Ungarn mitgemacht hatte, und Louis de Cazenave, einer der Überlebenden des Chemin des Dames. Beide wurden 1897 geboren, im gleichen Jahr wie Jonathans vor hundert Jahren getöteter Ururgroßvater. Sie starben beide im Winter 2008, Louis de Cazenave im Jänner, Lazare Ponticelli im März. Als letzter Poilu wurde Ponticelli im Invalidendom mit militärischen Ehren verabschiedet.

Es war eindeutig die unkompliziertere Wahl, die das Schicksal getroffen hat: Beide Weltkriegsveteranen waren von der Front als überzeugte Pazifisten zurückgekehrt, die von militärischem Pomp nichts mehr wissen wollten und immer wieder die „Idiotie“ und die Sinnlosigkeit des Krieges anprangerten. Während sich jedoch Lazare Ponticelli nach langem Zögern mit der Idee eines Staatsbegräbnisses und einer Zeremonie im Invalidendom anfreunden konnte, schloss Louis de Cazenave dies für den Fall, dass er als letzter sterben würde, kategorisch aus. Wer das Hôtel des Invalides im siebten Pariser Arrondissement besucht, wird verstehen warum: General Nivelle, der Verantwortliche für die Schlacht am Chemin des Dames, hat dort ein Ehrengrab.

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