Kugelblitze auf der Geistesbahn…

… oder umgekehrt, wer weiß das schon. Geistreiche, rasante, unvorhersehbare Lektüre bietet auf jeden Fall Franz Schuhs neues Buch „Sämtliche Leidenschaften“ („Roman“ kann man kaum dazu sagen) – sehr lesenswert, hier in der NZZ besprochen: 

 

Das Leben in seinen Verwicklungen

Georg Renöckl 3.2.2015, 05:30 Uhr

«Ich will hier ja nur eines erzählen, nämlich wie ich Lili, die mich natürlich auch verlassen hat, eines Tages kennenlernte», erklärt das Erzähler-Ich irgendwo in «Sämtliche Leidenschaften», einem Buch, das wohlweislich auf jede Genrebezeichnung verzichtet. Der Grund für die Klarstellung in einem fiktiven Gespräch mit einem Lektor, den man sich verzweifelt oder ungehalten vorstellen darf: Für eine als solche erkennbare Geschichte oder Handlung hat dieser Erzähler denkbar wenig übrig. Er heisst wie der Autor Franz Schuh, nennt sich selbst einen «Meister des narzisstischen Schelmenromans» und tritt im Lauf des Texts als Frühstückskoch, Performancekünstler, Radiophilosoph und Gelegenheitsrandalierer in Erscheinung.

Mitreissender Assoziationsstrom

Lili, die ihm am Ende des Buches tatsächlich «aus dem Lebensweg geht», heisst mit Nachnamen Fichte, was wohl kein Zufall ist: Neben einer durch den sicheren Tod begründeten «Daseinsnostalgie» zieht sich Johann Gottlieb Fichtes Satz «Das Ich setzt sich selbst» leitmotivisch durch den Text. Der Erzähler glaubt, Fichte «allmählich» zu verstehen, «allerdings noch auf eine Art, die ich anderen nicht erklären kann».

Wittgenstein würde daraus ein Schweigegebot ableiten, Franz Schuh hingegen schöpft aus dem Satz «Mir fehlen die Worte» Material für über zweihundert Seiten hochkonzentrierter Prosa, die seinen Lesern einiges abverlangen: Statt sich um die schnöde Chronologie zu kümmern, beobachtet sich Franz Schuh in seinem neuen Buch lieber bei der Selbstbeobachtung, lässt sich von unerwarteten Fragen im Selbstgespräch überraschen und von einem Wort-, Assoziations- und Gedankenstrom mitreissen, der auf den ersten Zeilen mit dem Nachdenken über den Tod einsetzt und bis zum Ende des Buches anhält.

Als Leser von «Sämtliche Leidenschaften» muss man sich wohl oder übel auf dieses Gefühl des Mitgerissen-Werdens durch ein Labyrinth von völlig unvorhersehbar verlaufenden Gedankengängen einlassen, die manchmal durch seichte Wortspiele und Kalauer verbunden sind, dann wieder überraschenden und erkenntnisreichen Tauchgängen in die Untiefen des menschlichen Seins – oder, um bei Fichte und Schuh zu bleiben: «Seyns» – gleichen.

So gelangt man vom Mickymaus-Heft über das Heft des Messers, das manchem gelegentlich in der Brust steckt, zum Herzen, das an so vielem hängt, das man doch nicht mitnehmen kann, und landet wieder einmal beim Tod, der hier nichts lächerlich scheinen lässt. Von der Freundschaft und ihren Enttäuschungen kehrt man unversehens wieder zu Mickymaus und ihrem Wert für die sprachliche Entwicklung von Kindern zurück, an dem man erst zu zweifeln beginnt, als es unversehens heisst: «Ich möchte das Schwein, das mir meine Micky-Maus-Hefte nicht zurückgegeben hat, nur killen.»

Keine Zeit zum Innehalten

Dann wieder stösst man in einer eher heiteren Passage über Aussagen, die die Grossmutter des Erzählers über Delphine hätte machen können, wenn sie denn Meeresbiologin gewesen wäre, was sie aber nicht war, plötzlich auf Sätze wie: «Die Entfernung zum eigenen Leben kann ein jeder Mensch messen. Indem er alles, was an Nähe verloren ging, zusammenstückelt», oder: «Das Furchtbare ist, dass mit jedem Menschen die ganze Welt verschwunden ist, dass der Überlebende aber zur Kenntnis nehmen muss, dass sie doch noch da ist, die ganze Welt.»

Zeit zum Innehalten und Nachhallen-Lassen bleibt aber kaum, denn schon lauert hinter einem der unzähligen Kommas in Schuhs endlosen Sätzen der nächste Kalauer und katapultiert Erzähler und Leser auf eine ganz andere Ebene, vielleicht sogar vorübergehend dort hinauf, wo arrivierte Philosophen die Leiter, die sie nicht mehr brauchen – die Philosophie nämlich – wegwerfen.

Neben dem Nachdenken über die Liebe und den Tod, die Wahrheit und das Übergewicht, die Prothesen und die Sprache darf in Franz Schuhs welthaltigem Buch («Die Welt ist, was mich zu Fall bringt») auch die Schönheit nicht fehlen. Denn zweifellos gilt folgender Satz über deren Eigenwilligkeit nicht nur für Menschen, sondern auch für dieses Buch selbst: «Es ist leichter, schön zu sein in einer Handlung, die jeder Trottel versteht, als in den Verwicklungen des Lebens, in denen sich keiner auskennt, die es aber ermöglichen, auch Menschen schön zu finden, die es nach allgemeinen Kriterien gar nicht sind.»

Franz Schuh: Sämtliche Leidenschaften. Zsolnay-Verlag, Wien 2014. 224 S., Fr. 28.90.

 

 

 

 

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