Hier gehts zum NZZ-Artikel vom 11. 01. 2012
„Strichcode“, das Prosadebüt der Ungarin Krisztina Tóth, ist ein erschütterndes Protokoll seelischer Verletzungen
Georg Renöckl ⋅ Ein wertvolles Federmäppchen ist verschwunden, die Schüler dreier Klassen kommen infrage, den Diebstahl begangen zu haben. Sie werden in einem Klassenzimmer versammelt, wo der oder die Schuldige nach der obligaten Moralpredigt die Tat gestehen soll. Die Fenster bleiben trotz der Hitze geschlossen, das Mittagessen fällt aus, das leiseste Geräusch wird streng bestraft. Die Zeit scheint sich unendlich zu dehnen, bis dann doch noch eine Stimme sagt: «Ich bin es gewesen.» Es ist die Erzählerin, die sich selbst wie einer Fremden beim Sprechen zuhört. Sie hat das Federmäppchen zwar nicht gestohlen, aber begriffen, dass es bei Folter nicht um die Suche nach der Wahrheit geht.
Geschichte der Demütigung
Es ist eine alles andere als heile Kindheit, auf die Krisztina Tóths Erzählerin zurückblickt. Sie ist geprägt von vielfältigen Demütigungen, kommunistischem Drill, grausamer Gleichgültigkeit und vergifteten Geschenken: Eines Tages wird in der Siedlung ein Schlittelhügel aufgeschüttet. Begeistert nehmen die Kinder Teile des bunt schillernden Schüttmaterials als Spielzeug mit nach Hause. Heute weiss die Erzählerin, dass es sich dabei um Hochofenschlacke handelte, «ein hochgefährliches Abfallprodukt voll mit Schwermetallen, Teer und sich nur langsam abbauenden Giften, die nach und nach den Boden durchdrangen, in die grünenden Bäume und Sträucher aufstiegen, in die Tiefe sickerten, tiefer als der Lichtschacht bis in die mit einem Gewirr von Kabeln ausgelegte Hölle, und mit Silikatstaub den Äther erfüllten, sich in unseren Lungen festsetzten, aufstiegen bis zur Dachkante der Hochhäuser, zu den Schäfchenwolken und noch höher – dorthin, wo laut Oma Gere das ewige Reich des Himmels ist».
Fette Würmer im Müllschlucker, in der Suppe schwimmende Käfer, verstümmelte Frösche, Haut- und Darmparasiten bevölkern die Kindheitshölle im nahen, aber unendlich fremden Ungarn hinter dem Eisernen Vorhang. Die Serie der körperlichen und seelischen Verletzungen setzt sich ins Erwachsenenalter fort. Geliebte Männer erweisen sich als kaltherzige Betrüger, Trennungen als qualvolle Prozeduren, die Geburt eines Kindes als lebensbedrohliches Blutbad. Eine weitere Schwangerschaft endet mit der Entfernung «nekrotischer Masse», die aus der Gebärmutter geschabt werden muss. Der «Strichcode», aus dem die Erzählerin ihre Identität im Rückblick ablesen will, besteht vor allem aus Bruchlinien und schlecht vernarbten Wunden.
Faszinierende Neuentdeckung
Trotz allen Grausamkeiten liest man sich sehr rasch fest an diesen fünfzehn «erzählten Begebenheiten», die sich zum Protokoll eines Lebens fügen, aber auch unabhängig voneinander stehen können. Die Souveränität, mit der Tóth die Bewusstseins- und Zeitebenen wechselt und ineinander verschränkt, die Stimmigkeit der kindlichen Lebensweisheit, zu der die Erzählerin bereits früh gefunden hat, die schiere Magie der dunklen Kindheitswelt und ein bei allem Horror nie versiegender (Sprach-)Witz lassen einen dieses Buch so schnell nicht wieder aus der Hand legen.
Die 1967 geborene Krisztina Tóth zählt zu den bedeutendsten Lyrikerinnen Ungarns, meidet die Öffentlichkeit aber so konsequent, dass auch Péter Nádas in seinem lesenswerten Nachwort auf Mutmassungen über die Autorin angewiesen ist. So bleibt einstweilen nicht viel mehr übrig, als sich über eine faszinierende literarische Neuentdeckung zu freuen, Nádas‘ «handwerkliches Staunen» über eine Prosa zu teilen, die die «Kraft eines Büffels und die Schwerelosigkeit eines Falters» in sich vereint, und auf weitere ins Deutsche übertragene Texte Krisztina Tóths zu hoffen.
Krisztina Tóth: Strichcode. Fünfzehn erzählte Begebenheiten. Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner. Mit einem Nachwort von Péter Nádas. Berlin-Verlag. 208 S., Fr. 28.50.