Meine Besprechung des italienischen Sommer-Bestsellers für Ö1/Ex libris, gesendet am 4. 9. 2022:
In Giulia Caminitos Roman „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ blühen die Zitronen nicht, sondern verfaulen. Die Mamma kann nicht kochen, sondern zerquetscht Speisereste mit der Gabel und überbäckt sie mit Eiern im Rohr, Hauptsache satt. Auch sonst hat das Italien, in dem die Ich-Erzählerin Gaia aufwächst, nichts von einem Sehnsuchtsland.
In der Volksschule dürfen die Kinder nicht im Hof spielen, weil dort ein umgestürzter Baum liegt. Fünf Jahre lang. Und aus dem Kellerloch von zwanzig Quadratmetern, in dem sie mit ihrer Familie hausen muss, kommt sie erst, als die für sie zuständige Beamtin wegen Korruption verurteilt wird. Als Gaia elf ist, zieht sie mit den Eltern und drei Geschwistern schließlich in eine Sozialwohnung in Anguillara Sabazia. Die Kleinstadt liegt idyllisch an einem See, doch für die Schönheit der Umgebung hat niemand ein Auge. Vater Massimo ist querschnittgelähmt, doch da er als Schwarzarbeiter vom Baugerüst gestürzt ist, gibt es keine Invalidenrente. Mutter Antonia hält die Familie als Putzfrau über Wasser. Mit unnachgiebiger Strenge sorgt sie dafür, dass aus den prekären Verhältnissen, in denen sie leben, keine desolaten werden. Die Kinder müssen nach Rom in die Schule pendeln, da sich Antonia davon bessere Zukunftschancen verspricht.
Fremde bleiben sie da wie dort. Gaia ist in Anguillara und in Rom Außenseiterin, sie fühlt sich, auch als sie zwei Freundinnen findet, „nicht geschaffen für Freundschaften, ich verstehe ihre Dynamik nicht, das Unverständnis, ich weiß nicht, wann ich reagieren muss, wann abseits bleiben, ich kann die beiden nicht zu mir nach Hause einladen, ich habe niemanden, der mich zu ihnen begleiten könnte, meine Mutter sagt, bevor ich nachmittags ausgehen dürfe, müsse ich mindestens noch ein Jahr warten, ich bin nicht verführerisch, ich habe nichts Neues zu bieten, ich habe keine Spiele, kein Makeup, ich habe keine Kleider zum Verleihen, ich kann nur die Sweatshirts meines Bruders, die Windeln der Zwillinge, den Rollstuhl des Vaters beitragen.“
Ständig muss das Mädchen etwas verstecken: die Armut der Familie vor den Mitschülerinnen, deren Quälereien, als sie natürlich trotzdem dahinterkommen, vor der Familie. Der ältere Bruder, einst ihr einziger Vertrauter, kapselt sich zunehmend ab, der Vater sitzt wie eine Statue in seinem Rollstuhl, die jüngeren Geschwister sind Zwillinge und bleiben unter sich. Antonia schließlich gibt ihren Kindern keine Geborgenheit, sondern nur Härte mit.
Gaia hat längst begriffen, dass ihre Aufgabe darin besteht, „keine schlechten Noten zu bekommen, im Zug zu lernen und an den Nachmittagen meiner Mutter zu zeigen, dass ich tue, was ich soll, zu vermeiden, dass sie von den Lehrern zum Elterngespräch zitiert wird, denn sonst müsste sie erklären, warum sie allein kommt, und dann müsste sie erklären, welcher Arbeit sie nachgeht, und dann müsste sie erklären, woher wir kommen, und all das, was ich niemandem erklären will.“
Es liegt jedoch nicht nur an den bedrückenden Verhältnissen, in denen Gaia aufwächst, dass die Lektüre dieses Romans zunächst alles andere als leicht fällt. Auch die Sätze der Erzählerin wiegen schwer. So gut wie immer wachsen sie sich zu mehrzeiligen Absätzen aus, die sich nicht damit begnügen, das Leben einer Elf- oder Dreizehnjährigen aus deren Sicht zu erzählen. Stets schwingt auch das große Ganze mit, die vielen Schattierungen der Tristesse, ein detailliertes Panorama der Ungerechtigkeit, was dem Roman im ersten Teil viel Ballast aufbürdet.
Als Gaia nach der Unterstufe bewusst ein als „schwierig“ geltendes humanistisches Gymnasium wählt, hat sie den Willen ihrer Mutter längst verinnerlicht und ist selbst zur Kämpferin geworden: „Diese neue Schule stößt mich sofort ab, wie Tomatensoße, deren Verfallsdatum abgelaufen ist, aufgetaute Tiefkühlkost, und deshalb bleibe ich und werfe den Anker, mit meinem abgewetzten Rucksack […], ich baue Barrikaden und nehme die Konkurrenz an, wenn ich Schlachtfelder sehe, beginne ich zu marschieren.“
Gaia, deren größter Schatz ein Wörterbuch ist, schlägt sich dank ihrer eisernen Disziplin glänzend, doch ihre Herkunft wiegt schwerer als ihre Leistungen. Ausgerechnet die Italienischlehrerin, bei der sie Jahr für Jahr Bestnoten geschrieben hat, gibt ihr den Rat, nach der Matura arbeiten zu gehen, Krankenschwester zu werden, Kosmetikerin oder Sekretärin, und fragt: „Hast du denn irgendein Talent?“
Selten, aber doch brechen sich die vielen angestauten Frustrationen eruptiv ihre Bahn. Wenn die so oft gedemütigte und dabei stumm gebliebene Gaia einmal zurückschlägt, kennt sie keine Grenzen. Ihre schlimmsten Feinde bleiben auf Dauer körperlich gezeichnet.
„Es ist in Ordnung, dass die anderen untergehen, dass ihnen erfundene und imaginäre Schuld zugeschrieben wird, das Wichtige ist, dass ich oben bleibe und an der Oberfläche treibe, im Licht auftauche“, findet Gaia, die sich im Lauf der Jahre einen Platz in der Gesellschaft am See erkämpft hat. Doch die zur Schau gestellte Härte ist zerbrechlich. Je älter Gaia wird, desto besser passen die bedeutungsschweren Sätze der Erzählerin zu ihr und desto stimmiger und fesselnder wird der Roman. Gleichzeitig wird hinter dem jugendlichen Pathos der Erzählerin ihre Verletzlichkeit immer deutlicher sichtbar.
Schuldgefühle verfolgen sie. Zwei Freundinnen sind tot, eine durch Suizid, eine durch eine rätselhafte Krankheit, von beiden hat sie sich entfremdet und jede Gelegenheit zur Versöhnung verpasst. Die duftenden Zitronen, die sie der Schwerkranken als versöhnliche Geste mitbringt, verfaulen vor der Haustür der Sterbenden.
Am Ende dieses schweren Erwachsenwerdens, als Gaia studierte Philosophin ist und keine Anstellung findet, muss die ganze Familie wieder nach Rom übersiedeln, von wo die Erzählerin als kleines Mädchen zu Beginn des Romans aufgebrochen ist. Doch der See ist ihr Schicksal, und sie holt sich ihn auf ihre Weise zurück, in einer großartig-düsteren Schlusssequenz, in der sogar eine zartbittere Liebeserklärung an das Städtchen ihrer Jugendjahre Platz hat. Versöhnlich oder womöglich süß ist daran freilich, wie schon der Titel des Romans ankündigt, gar nichts.