Die Farben der Vergangenheit. Wie Geschichte zu Bildern wird.

Bis 16. 06. nachzuhören: Meine Rezension zu Peter Geimers Buch über die Rekonstruktion von historischen Augenblicken.

Link zur Ö1-Radiothek

Volltext:

Das Blut an der aufgeplatzten Lippe der 14-jährigen ist rot. Unmittelbar vor der Aufnahme wurde die Jugendliche mit einem Stock verprügelt. Das Foto der jungen Polin Czesława Kwoka stammt aus der Kartei des Vernichtungslagers Auschwitz, wo sie wenige Monate nach ihrer Ankunft ermordet wurde. Im Rahmen des Projekts „Faces of Auschwitz“ wurde ihr Bild wie auch weitere erhaltene Fotos aus der Lagerkartei von der brasilianischen Künstlerin Marina Amaral digital koloriert. Man kann sich dem Effekt kaum entziehen: Die Farbigkeit erzeugt eine wesentlich größere Nähe zu den Fotografierten als das gewohnte Schwarz-Weiß. Der in Berlin lehrende Kunsthistoriker Peter Geimer sieht das kritisch. Er vergleicht die Nachkolorierung mit dem Auftragen von Schminke, die zu einer „Beseitigung des Historischen“ führe. Geschichte könne man jedoch nur aus der Distanz heraus analysieren.

Ähnlich ablehnend äußert er sich zum Dokumentarfilm „They shall not grow old“, der 2018 in die Kinos kam. Regisseur Peter Jackson hatte dafür im Auftrag des Londoner Imperial War Museum zahlreiche Originalaufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg nachkoloriert. Dazu Peter Geimer:

Dass die Betreiber des Museums den Regisseur der Fantasy-Trilogie Der Herr der Ringe für die geeignete Person hielten, um ihr Archivmaterial zu erschließen, gibt bereits einen Hinweis auf ein verändertes Verständnis historischer Dokumentation. Filmhistorisch verbindet die Wahl Jacksons nun die Kriegsschauplätze des Ersten Weltkriegs mit Auenland, Gondor und Mordor, die Grabenkämpfe in Flandern mit der Befreiung von Mittelerde durch eine Schar von Elfen, Hobbits, Zwergen und Menschen.

Peter Geimers pointierte Kritik an der digitalen Kolorierung bildet den letzten Teil einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Frage der Rekonstruktion von Vergangenheit, für die er weit ausholt. Die ersten von zahlreichen Fallbeispielen, durch die er Schlaglichter auf den Themenkomplex wirft, sind die unter gewaltigem Aufwand hergestellten Schlachtgemälde des 1891 verstorbenen französischen Historienmalers Ernest Meissonier. Dieser ließ die zu malende Szene von Komparsen in extra angefertigten oder ausgebesserten originalen Uniformen nachstellen, spielte dabei selbst mit, bereiste Schlachtfelder, fertigte Landschaftsmodelle an und sorgte durch eine Fülle an Details dafür, dass der Satz „Meissonier hat nichts vergessen“ in der zeitgenössischen Kunstkritik zum geflügelten Wort wurde. Der aufwendig erzeugte Wirklichkeitseffekt hat für Geimer jedoch seinen Preis:

Dass vor der Schlacht vor Hohenlinden, die im Dezember 1800 die Niederlage der Truppen Johanns von Österreich besiegelte, ein Hase durch den tiefen Schnee gelaufen ist und die Pferde der Generäle Moreau und Dessoles einige Male unruhig auf der Stelle getreten sind, ist weltgeschichtlich ohne Belang. Die Spuren sind lesbar, aber ihre Entzifferung offenbart nichts. Dasselbe gilt für den beschriebenen Überschuss an Details: Es tut nichts zur Sache, dass während der Schlacht von Friedland im Abseits der historischen Geschehnisse der Schatten eines Steigbügels auf einen blank geputzten Reitstiefel gefallen ist. «Alles ist da», aber die Vollständigkeit des Gezeigten erklärt nichts.

Eine gänzlich andere Rolle spielen tatsächlich oder vermeintlich überflüssige Details bei der Fotografie, mit der sich Peter Geimer als nächstes auseinandersetzt. Er folgt dabei einem Ansatz des Feuilletonisten, Soziologen und Filmtheoretikers Siegfried Kracauer. Dieser beschreibt die Fotografie im Jahr 1927 als „Generalinventar“ ihrer Zeit, voll von „zeithistorischem Abfall“, der sich womöglich erst im Rückblick als wertvoll erweisen wird.

Welchen Sinn hat es, nicht nur die historischen Akteure und ihre Handlungen in den Blick zu nehmen, sondern zugleich auch das gewöhnlich übersehene Beiwerk der Geschichte? Es geht hier nicht um eine symmetrische Vertauschung von Haupt- und Nebendingen, eine emanzipatorische Auflösung der Hierarchien, die dem Kutscher des Kaisers und dem unbekannten Mann am Straßenrand die ihnen versagte historische Bedeutung zurückerstatten will. Viel mehr zählt das Potenzial der Fotografie, Einblick in einen Zustand zu gewähren, in dem zwischen Haupt- und Nebensachen, Bedeutsamkeit und Kontingenz, noch nicht klar geschieden ist.

Es sind höchst unterschiedliche Bilder, die Peter Geimer nach diesem Potenzial abklopft, von Aufnahmen der Landschaft, in der sich die Passion Jesu zugetragen hat, bis zu Fotografien, die den jungen Adolf Hitler zeigen. Bei allen Aha-Effekten fällt es dabei manchmal schwer, den roten Faden nicht aus den Augen zu verlieren. Die Beschäftigung mit Authentizität und Rekonstruktion bildet eine lockere Klammer, die das Ganze eher lose zusammenhält.

Dennoch ermöglicht „Die Farben der Vergangenheit“ einen Blick in einige der sonst nicht zugänglichen Werkstätten, in denen die Bilder für unser kollektives visuelles Gedächtnis hergestellt wurden und werden. Dass dabei nicht nur Sorgfalt und technisches Können nötig sind, sondern auch der Blick aufs Ganze und die Akzeptanz des Vergangen-Seins der Vergangenheit, zeigt Peter Geimer überzeugend.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.