Im Flow der Somme
Die Gegend ist viel besser als ihr Ruf als Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs: Eine Reise an die Somme, von der Quelle durch teilweise bukolisch anmutende Landschaft bis zum Ärmelkanal.
Ein Höllenschlund, der einen dunklen Strom von Blut, Schweiß und Tränen in die verwüstete Landschaft speit – ginge es nach den Bildern im Kopf, die das Wort „Somme“ bei vielen auslöst, würde so ihre Quelle aussehen. Der Fluss wurde zum Synonym für eines der sinnlosesten Gemetzel des Ersten Weltkriegs. Eine halbe Million Soldaten starben dort in den Sommermonaten 1916, und als sie alle tot waren, hatte sich am Frontverlauf so gut wie nichts geändert. Doch die Natur schert sich nicht um die Bilder in unseren Köpfen. Vielmehr umgibt eine wahre Bilderbuchlandschaft die von einem Steinbecken gefasste Quelle im Weiler Fonsomme, etwa 15 Kilometer von der Kantonshauptstadt Saint-Quentin entfernt: Alte Kopfweiden, sattgrüne Wiesen, behäbige Gehöfte – und mittendrin die Somme, die schon an ihrem Ursprung das macht, was sie am besten kann: gemächlich vor sich hin mäandern.
Mit gemütlichen vier Kilometern pro Stunde schlängelt sich der Fluss durch die bukolische Landschaft, im idealen Gehtempo, und vielleicht löst das diese Lust aus, am Wasser entlang einfach draufloszuwandern. Aus gutem Grund wurde der Weitwanderweg GR 800 angelegt, der die Quelle der Somme mit ihrer Mündung in den Ärmelkanal verbindet – gut 150 Kilometer Luftlinie, doch die vielen Biegungen des Flusses verlängern die Strecke von hier bis Saint-Valéry-sur-Somme auf 227 Kilometer, gut zu bewältigen in zehn Tagesetappen.
Kleine Art-déco-Metropole
Egal, ob man zu Fuß unterwegs ist oder nach einem gemütlichen Bummel an der Quelle wieder ins Auto steigt: In Saint-Quentin flussabwärts sollte man unbedingt eine längere Pause einlegen. Nicht nur wegen des Marais de l’Isle, einer von der Somme geformten Erholungslandschaft voller Auwälder, stiller Nebenarme und belebter Familienstrände, sondern vor allem wegen der Stadt selbst. 1918 bestand sie vor allem aus rauchenden Trümmern. Die Deutschen hatten sie zum Teil der Hindenburg-Linie gemacht und konnten nur durch schweren Artilleriebeschuss aus ihren unterirdischen Bunkeranlagen vertrieben werden. Die stolze Basilika war eine Ruine, in der Altstadt standen nur noch vereinzelte Häuser. Dank der Reparationszahlungen, zu denen Deutschland verdonnert wurde, erstand Saint-Quentin als bildhübsche kleine Art-déco-Metropole aus den Trümmern.
Keinesfalls verpassen sollte man hier das ehemalige Bahnhofsrestaurant Buffet de la gare, ein Juwel aus unzähligen Mosaiksteinen, das allerdings nur für Führungen geöffnet wird. Wer lieber frei herumspaziert, halte sich an stilisierte Rosen an den Fassaden und stilisierte Obstkörbe an den eisernen Balkongeländern – fertig ist der Art-déco-Spaziergang durch das freundliche Städtchen, dessen großzügiger Hauptplatz mit seinem erhaltenen gotischen Rathaus und den teilweise rekonstruierten Bürgerhäusern von einer reichen Vergangenheit zeugt. Erhaben ist die Basilika, die dank eines lothringerkreuzförmigen Grundrisses zwei Querschiffe hat. In einem davon ist die Hand des heiligen Quintinus ausgestellt. Den Pilgerströmen, die diese auslöste, verdankt die Stadt ihren Reichtum – auch wenn längst bewiesen ist, dass die Hand nicht von dem im dritten Jahrhundert hingerichteten Märtyrer stammen kann.
Geheiltes Idyll, alte Wunden
Eine Hand verbinden literarisch Interessierte auch mit dem „Montagne de Frise“, gute vierzig Kilometer flussabwärts. Dieser „Berg“ ist eine Geländekante mit herrlichem Ausblick über den Fluss, der tief unten seine Mäander in die Landschaft schmiegt. Er wird von zu Teichen gewordenen ehemaligen Torfgruben gesäumt. Das Geschrei unzähliger Wasservögel erfüllt die Luft, die Teiche dienen Jägern und Fischern als Revier. Ein lohnender Spazierweg führt vom Aussichtsberg hinunter ins kleine Dorf Frise. Schafe und Wildkaninchen halten den „Montagne“ frei vom Buschwerk und machen ihn zu einer nach Blumen duftenden Almlandschaft.
Vor hundert Jahren war die aussichtsreiche Anhöhe nicht aus touristischen, sondern aus strategischen Gründen heiß umkämpft. Die so hübsch anzusehenden vielen kleinen Hügel und Kuhlen sind nichts anderes als überwachsene Granattrichter. Der Schweizer Schriftsteller und Abenteurer Blaise Cendrars beschreibt in seiner autobiografischen Erzählung „Die rote Lilie“ („La main coupée“) die Wochen, in denen er als Fremdenlegionär seine französische Wahlheimat in den Sümpfen rund um Frise verteidigte, wobei er die rechte Hand verlor.
Mehr über die schaurige Geschichte der idyllischen Landschaft erfährt man im nahen Péronne, wo in einer im Weltkrieg fast völlig zerstörten mittelalterlichen Burganlage ein informatives Weltkriegsmuseum untergebracht ist. Will man sich lieber der Kulinarik als der Historie widmen, ist Saint-Christ-Briost der richtige Ort: Dort bekommt man die einst als Arme-Leute-Essen verachteten, heute aber geschätzten Räucheraale der Haute-Somme zu kaufen, in einem kleinen Fischrestaurant gibt es auf Vorbestellung Matelote d’anguilles – in Rotwein gedünsteten Aal. Oder man angelt gleich selbst: Sieben Euro kostet die Tageskarte, Angelschein ist keiner notwendig.
Am anderen Ende der Schlachtfelder von einst liegt das Städtchen Corbie, ein guter Ausgangspunkt für eine Fahrt über das friedliche Land voller Soldatenfriedhöfe und Gedenkstätten – zu den eindrücklichsten zählt der zu Beginn der britischen Offensive in die Landschaft gesprengte Lochnagar-Krater. Vor allem beginnt in Corbie aber auch die Véloroute de la Somme, ein schön angelegter, 120 Kilometer langer Radweg zum Ärmelkanal.
Ein Höhepunkt der Gotik
Als erste Etappe bietet sich Amiens an, die alte Hauptstadt der in der neuen Großregion Hauts-de-France aufgegangenen Picardie. Der geschichtsträchtigen Stadt nähert man sich am besten vom Wasser aus: Schon die Gallier bauten auf den vielen kleinen Inseln des hier weitverzweigten Flusses Gemüse an, die Tradition hat sich bis heute erhalten. Per Boot können die „Hortillonages“, wie das dreihundert Hektar große Garten-Venedig heißt, besichtigt werden.
Die Form der typischen Boote mit ihren flachen Schnäbeln, die heute vor allem für Besichtigungstouren genützt werden, erklärt sich aus ihrer ursprünglichen Verwendung als Gemüsetransporter: Über die abgeflachte, breite Spitze konnten die Boote bequem be- und entladen werden. Was heute noch sinnvoll ist: Es gibt kaum Brücken, die einzelne Inseln verbinden. Werkzeuge, Baumaterialien und natürlich die Ernte werden nach wie vor per Boot transportiert. Vom Wasser aus eröffnen sich schöne Blicke auf die hoch oben thronende Kathedrale von Amiens, deren gewaltiges, mehr als 42 Meter hohes Kirchenschiff den sprichwörtlichen Höhepunkt der französischen Gotik bildet – den Drang nach oben spürt man bei ihrer Besichtigung förmlich in der Kopfhaut prickeln.
In Saint-Leu, dem ehemaligen Färberviertel zwischen den „Hortillonages“ und der Kathedrale reiht sich heute ein Restaurant ans andere. Das eigentliche Zentrum der im Zweiten Weltkrieg schwer bombardierten Stadt wurde recht lieblos wieder aufgebaut – mit Ausnahme des heute noch großartigen Wolkenkratzers von Auguste Perret, der lange Zeit der höchste Europas war.
Kopfweiden, Torfteiche, Schwemmland
Ailly, wenige Kilometer flussabwärts gelegen, ist eine weitere Etappe an der Véloroute. Wer nicht die ganze Strecke bis zur Küste abfahren, sich aber für ein paar Kilometer in den Sattel schwingen möchte, kann sich im alten Schleusenhaus ein Fahrrad ausborgen – auch E-Bikes sind dabei – und quer durch eine Landschaft, die mit ihren Kopfweiden an Michael Endes „Land des Traumfresserchens“ erinnert, bis ins 25 Kilometer entfernte hübsche Long radeln. Dort weitet sich die Somme wieder und bildet mit den vielen Torfteichen eine fantastische Wasserlandschaft, die man am besten vom Belvedere de la Somme aus genießt, einem der schönsten Picknickplätze weit und breit.
In früheren Jahrhunderten hätte man mit dem nahen Abbeville bereits das Meer erreicht, doch die Küste wurde im Lauf der Zeit vom Material, das die Somme mit sich führt, immer weiter in Richtung Westen geschoben. Die im Zweiten Weltkrieg schwer zerstörte Stadt mit ihrer flamboyant-gotischen Kollegialkirche Saint-Vulfran liegt inmitten dieses Schwemmlands; man spürt, dass das Meer nicht weit ist. Nach 25 Kilometern erreicht man die Somme-Bucht, eine einzigartige Natur- und Kulturlandschaft. Auf den Prés Salés – Weiden, die einen Teil des Jahres vom Meer überflutet sind – grasen rund 5000 Schafe und Lämmer, deren Fleisch unter einer eigenen Appellation d’origine controlée (AOC) vermarktet wird.
Im Süden der Bucht liegt die noble kleine Stadt Saint-Valéry, gegenüber das entspanntere Le Crotoy. Fantastische Blicke über die weite Bucht und Meeresfrüchte in Hülle und Fülle gibt es da wie dort. Sportliche Reisende gehen auf direktem Weg von einem Ort zum anderen: Bei Ebbe kann man Wanderungen über den Meeresgrund unternehmen, am besten barfuß oder mit Aqua-Schuhen, bei denen man auf Sichtweite an die beiden in der Bucht lebenden Robbenkolonien herankommt.
Wildgemüse vom Meeresgrund
Le Hourdel heißt der äußerste Punkt der Somme-Bucht, an dem die Reise endet – wer Lust auf selbst geerntetes Wildgemüse vom Meeresgrund hat, trifft sich hier mit einem Mitglied der Association des pêcheurs à pied de la Baie de Somme und wandert sodann mit hüfthohen Gummistiefeln, Kübel und Messer ausgestattet in Richtung der einmal sandigen, einmal schlammigen Salicornes-Felder. Das salzig-saftige Grünzeug hat aber auch längst den Weg auf die Speisekarten der Restaurants an der Küste gefunden. Wer auf einen gleichermaßen dramatischen wie nachdenklichen Schlusspunkt der Reise Wert legt, wandert am Strand weiter bis zu einem deutschen Weltkriegsbunker, den die Gezeiten aus seiner Verankerung gerissen und wie ein Mahnmal schräg in den Sand gerammt haben.
Und wer noch Zeit hat, nimmt sein Rad und fährt die eben eröffnete Route blanche von Le Hourdel aus immer am Meer entlang nach Cayeux, den für seine Kiesel und seinen langen hölzernen Laufsteg bekannten Badeort mit dem etwas verblichenen Charme. Ach ja, baden – das kann man hier natürlich auch.
Somme-Bucht
Frankreich: at.france.fr/de
(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 08.09.2018)