„Ich bin nicht immer meiner Meinung.“

Ein NZZ Interview mit Karl-Markus Gauß (hier die Originalversion vom 23. 03. 2012):

„Ich bin nicht immer meiner Meinung.“

Karl-Markus Gauß über die Nuller Jahre, das Schreiben und die Faszination von Reality-Shows.

Als Autor, Publizist und Zeitdiagnostiker ist Karl-Markus Gauß in Österreich eine singuläre Erscheinung. Mit vier Journalen hat er das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts begleitet. Der Band „Ruhm am Nachmittag“ schließt das Projekt nun ab. Georg Renöckl traf den Autor in Wien.

Herr Gauss, wir leben in der Zeit einer Medienrevolution, deren Folgen wir noch nicht absehen können. Heute Morgen habe ich ein Wirtschaftsblog gelesen, in dem das Ende der Tageszeitung für das Jahr 2034 vorausberechnet wird. Glauben Sie, dass diese Zeitung noch ein Feuilleton haben wird?

Ich glaube, dass sich die Zeitungen am ehesten selbst abschaffen, wenn sie ihre ureigenen Qualitäten zurückdrängen und versuchen, sich mittels aufgeblähter Fototeile und anderer Dinge, die nicht ihr genuines Merkmal sind, eine fadenscheinige Modernität zu verleihen. Zeitungen werden überleben, wenn sie wirklich im klassischen Sinne aufklärende Medien sind, mit anspruchsvollem Programm. Wenn es daher im Jahr 2034 noch Zeitungen geben wird, dann werden sie sicherlich einen sehr elaborierten, gediegen gemachten politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Teil haben, zu dem auch das klassische Feuilleton gehören wird. Ich bin da sehr optimistisch.

Am Ende des Jahrzehnts, das Sie mit ihren Journalen begleitet haben, sind über den Folgen der Finanz- und Schuldenkrise vielerorts Protestbewegungen aufgeflammt. Erwähnt sei hier die Bewegung «Occupy Wall Street», die international Kreise zieht. Auch an den österreichischen Universitäten gab es wegen Sparmassnahmen heftige Proteste, die Sie mit viel Sympathie beschreiben. Bisher sind diese Protestbewegungen gescheitert. Fehlte den Empörten der grosse theoretische Wurf?

Der könnte doch auch durch die Praxis neu entstehen. Was mich betrifft, graut mir vor den weisen älteren Herren, die sozusagen die Theorie dafür liefern, wie die jungen Leute demonstrieren, nach welchen Idealen und Zielen sie streben sollen. Tatsächlich ist es so, dass es bei den diversen Emanationen des Wutbürgertums am kritischen Reflektieren darüber weitgehend gefehlt hat und dass in den Feuilletons über dieses Phänomen mit einer leicht maliziösen Distanzierung geschrieben wurde, was ich in manchem durchaus teile. Man muss aber jede Protestbewegung daran messen, was sie erreichen will und aus welchen Bedingungen heraus sie entstanden ist.

Einer der vielen Stränge in Ihrem neuen Buch ist das Thema Bildung. Sie konstatieren ein Zerfallen der Gesellschaft, auch aufgrund einer beginnenden Privatisierung des Bildungssektors. Ist das Polemik oder eine Diagnose?

Es ist eine Diagnose, die mit polemischem Furor formuliert ist. Wir gehen, auch was das Gesundheitswesen betrifft, jetzt den amerikanischen Weg, während sich die Amerikaner unter Obama gerade fürchterlich abmühen, diesen Fehlweg zu korrigieren. Ich habe meine literarische Laufbahn als Kritiker des Staates begonnen, als Kritiker dieses Vertrauens in die Macht, die alles für einen lösen soll. Diese prinzipielle Staatskritik habe ich mir bewahrt, aber ich finde nach wie vor, dass es Dinge gibt, die ein Staat zu lösen hat und nicht private Initiativen.

Sie stellen den Absturz eines Spanair-Flugzeugs im Jahr 2008 als Folge von Privatisierungen dar und beschreiben den wirtschaftlichen Druck, unter dem die Piloten möglicherweise standen. Ein sehr schwerwiegender Vorwurf, finden Sie nicht?

Dazu muss ich sagen: Ich bin nicht immer meiner Meinung. Ich leiste mir die geistige Freiheit, mir selber zu widersprechen oder ins Wort zu fallen und manches gedanklich zu einem Extrem zu schärfen. Ich leide ein wenig darunter, dass meine Journale manchmal als eine Sammlung von Meinungsprosa bewertet werden. Die Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Finanzkrise oder mit Österreich, das sind vielleicht zwanzig Prozent des Buches.

Sie stellen sich darin auch vor, wie Sie dereinst auf der Wolke sitzend darüber räsonieren, wie wir alle immer schlechter und dümmer wurden. Ist die Ironie, die im jüngsten Buch einen grösseren Stellenwert hat als in den vorangegangenen, ein Ausdruck von Resignation?

Ich habe gemerkt, dass ich mit Ironie und Selbstironie gedanklich weiter komme als mit Pathos und Schärfe. Auch wenn die nuller Jahre so klingen, waren sie keine vergeudeten Jahre. Ich habe viel Beglückendes erlebt, trotz 9/11, Afghanistan-Krieg und Korruption. Ich muss mit meiner Zeit keinen faulen Frieden machen, aber ich muss mich zu ihr in ein Verhältnis setzen, mit dem ich unverbittert leben kann. Und dabei hilft mir die Ironie viel mehr als der Knüppel der strafenden Kritik.

Ihr Buch wirkt gerade an den Stellen, an denen es um das Altern geht, besonders optimistisch. In Ihrem letzten Journal schrieben Sie noch, das Ich entstehe aus der «Schrumpfung der vielen Möglichkeiten, die in ihm angelegt waren». Jetzt heisst es, das Ich sei «alle seine Lebensalter zusammen» und daher stets jünger, als es von den anderen eingeschätzt wird. Welcher Satz stimmt?

Der Widerspruch ist mir noch gar nicht aufgefallen. Obwohl ich den Ruf habe, es mit dem Alten und Vergehenden zu halten, identifiziere ich mich heute viel mehr mit dem aktuelleren Satz. Es stimmen aber beide: Selbstverständlich schrumpfen unsere Möglichkeiten ständig, aber andererseits ist jeder Mensch nicht nur das, was er heute ist, sondern auch die Fülle an Möglichkeiten und Erfahrungen, die er früher hatte. Daher ist es unausweichlich, dass man sich selber jünger einschätzt.

Im Hauptteil des Buches geht es um das Sterben. Sie beschreiben die Unsicherheit unserer Gesellschaft im Umgang mit dem Tod, revidieren frühere Meinungen, etwa über Menschen, die ihr eigenes Sterben öffentlich inszenieren wie Christoph Schlingensief, oder schreiben über Künstler, die Sterbende am liebsten im Museum ausstellen würden. Da beobachten Sie mehr, als Sie urteilen.

Das ist ja auch der Grund, weswegen ich schreibe: um mir selbst beim Verfertigen von Gedanken weiterzuhelfen. Und diese müssen ja nicht immer in eine Sentenz münden oder in eine Conclusio. Ich habe in diesem Journal stärker auf das Erzählende fokussiert, auch bei den Essays. Und Geschichten müssen nicht immer eine Moral haben. Ich bin mir auch selbst oft im Unklaren darüber und führe Dialoge mit mir.

Sie zitieren einen Satz des ungarischen Schriftstellers Sándor Márai, der selber ein bedeutendes Tagebuchwerk hinterlassen hat: «Das, was ich schreibe, erschafft mich, nicht umgekehrt.» Der Satz trifft wohl auch auf Sie selbst zu?

Ja, absolut. Ich bin insofern vom Schreiben abhängig, als ich ganz genau weiss, dass ich nur im Schreiben so gerecht oder so gescheit sein kann, wie ich es eben sein kann. Beim Schreiben gelingt es mir, meine eigenen Ressentiments, meine Ängste oder meinen Kleinmut, sogar die Rachsucht am ehesten zu überwinden. Ich gelte als Mann der klaren Worte, fühle mich aber eher als Autor, der die Skepsis und sein eigenes Denken mit in sein Schreiben hineinbaut.

Im Buch kommt ein Mann mit Krawatte vor, der mit der linken Hand eine SMS schreibt, mit der mittleren einen Pappbecher Kaffee und mit der rechten eine Aktentasche trägt, während er kräftig ausschreitend tief schläft. Wie geht es Ihnen mit der Beschleunigung aller Lebensbereiche?

Natürlich haben die beschleunigten Medien auch in meinen Alltag Einzug gehalten. Ich habe aber den Eindruck, dass vieles dadurch, dass es viel schneller geht, wesentlich länger dauert. Das Tempo meines eigenen Schreibens hat sich heute eher verlangsamt. Das liegt auch daran, dass ich schwer mit mir hadern müsste, würde jemand meine Bücher loben, aber einen schlampigen Zeitungsartikel kritisieren. Mir ist wichtig, dass ich in jedem Genre das Niveau erreiche, das mir möglich ist. Das muss beim Editorial für meine Zeitschrift so sein wie im gerade aktuellen Buch.

In den Journalen schaffen Sie es immer wieder, unerwartete, aber schlüssige Zusammenhänge herzustellen und Themen über weite Strecken nicht aus den Augen zu verlieren. In «Ruhm am Nachmittag» schildern Sie dann, wie Sie Notizen in einer Schuhschachtel sammeln, diese dann über den Tisch kippen, und so entstehen die Zusammenhänge. So einfach wird es wohl nicht gehen.

Ich habe zwar schon Zettelkästen und auch Schachteln, aber das spezifische Prinzip der Montage, von dem Sie sprechen, habe ich mir über die vier Journalbände erarbeitet. Mich interessieren heterogene Dinge, und ich habe den Anspruch, schreibend so etwas wie die Ahnung eines Zusammenhanges von allem mit mir selbst herzustellen. Es geht mir nicht darum, in dieser ungeheuren Menge an Informationen, die wir haben, Ordnung zu schaffen. Ich will mich aber selbst in dem allem entdecken und von mir sagen können, dass ich in dieser Zeit gelebt habe und mich mit dieser Zeit in allen ihren Facetten in irgendeine Beziehung setzen kann.

Der Titel des Buches ist eine Anspielung auf seichte Fernsehunterhaltung, auf Shows, in denen durchschnittlich Begabte zur allgemeinen Erheiterung eine sehr vergängliche Art von Ruhm erlangen. Sehen Sie sich diese Sendungen aus reinem Pflichtbewusstsein an?

Diese Reality-Shows oder Gerichts-Fakes schaue ich mit einem sehr ambivalenten Gefühl an. Ich bin einerseits völlig angewidert und überzeugt davon, dass dadurch die Gesellschaft verroht und verblödet, kann mich aber gleichzeitig ihrer Faszination schwer entziehen. Ich beruhige dann mein schlechtes Gewissen, indem ich mir einrede, ich brauche das für meine Literatur.

Als Leser fühlt man sich oft in ein Gespräch mit Ihnen verwickelt, Sie beschreiben Ihre eigenen Lektüren aber auch als eine Art Dialog mit den jeweiligen Schriftstellern. Wie wichtig sind Ihnen die Autoren hinter den Texten?

Literatur und Subjekt gehören für mich ganz eng zusammen. Ich möchte auch von mir sagen können, dass ich in meinen Büchern vollkommen, in meiner gesamten Persönlichkeit vorhanden bin. Die Weise, auf die ein Individuum schreibt und sich selbst schreibend in der Welt zu behaupten versucht, ist für mich sehr wichtig. Deshalb interessiere ich mich auch für die Biografie von Autoren und finde das gar nicht so unanständig, wie manche meinen. Das Leben ist schon wichtig.

Wie würden Sie Ihre Rolle in der österreichischen Literatur beschreiben?

Ich bekomme oft Post von Leuten, die mir mitteilen, dass sie etwas ganz anders sehen als ich oder dass ich völlig falsch liege. Aber sie beschimpfen mich nicht, sondern finden es der Mühe wert, mir einen Brief zu schreiben, und lesen dann weiter. Insofern bin ich ein demokratischer Autor, falls es so etwas geben kann: Man kann meine Journale mit Gewinn und hoffentlich auch Freude und Genuss lesen, ohne in den Büchern eine Gebrauchsanweisung zu sehen, wie man die Welt zu verstehen hat.

Das Viele Kleine und Das Grosse Ganze

öck Es ist «das Schönste an der täglichen Arbeit des Schreibens, einzelne Sätze zu finden und sie alle in eine grosse Form zu fügen, in der ich mich selbst entdecken kann», schreibt der 1954 in Salzburg geborene Karl-Markus Gauss in «Ruhm am Nachmittag». Den Lesern dieses letzten von vier Journalbänden über die nuller Jahre geht es ähnlich: Viele der funkelnden Sätze darin stellen Bezüge zu gerade noch selbst Erlebtem her, und wenn sie auch nicht gerade Selbstfindung verheissen, so fühlt man sich doch oft angesprochen. Altern und Tod, österreichische und europäische Verhältnisse sowie die Fiktionalität des verschwundenen Geldes sind einige der Themen, die das Denken des Autors in Gang bringen. Eine Inhaltsangabe des Bandes ist jedoch unmöglich: Leichtfüssig springt Gauss vom tagesaktuellen Ereignis in die eigene Kindheit, von der Lektüre eines entlegenen Autors zum Ausstellungsbesuch, von der Reisereportage ins Nachmittagsprogramm des Privatfernsehens. Man kann sich dem hohen Tempo und den überraschenden Wendungen, die der Text nimmt, getrost überlassen: Das grosse Ganze gerät nie aus dem Blick, die einzelnen Essays, Reportagen und Tagebuchnotizen fügen sich zu einem raffinierten System von Verweisen und Zusammenhängen. Wie nebenher ist der Band ausgesprochen bildend, ob es nun um die Geschichte der Slowenen in Triest geht, die absurde Tragik, die der Vergleich verschiedener Rechtssysteme mit Todesstrafe offenbart, oder auch um das hohe Ansehen, das Judas in Korea geniessen würde, wäre er dort bloss bekannter.

Karl-Markus Gauss: Ruhm am Nachmittag. Verlag Paul Zsolnay, Wien 2012. 288 S., Fr. 27.90.

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