Fünfte Sonne

Camilla Townsends auf indigenen Annalen beruhende Geschichte der Azteken, besprochen für das Sachbuchmagazin „Kontext“ auf Ö1 – hier der Link zur Sendung.

Einmoderation:

Österreich und Mexiko verbindet mehr, als man auf Anhieb vermuten würde: Etwa ein übermächtiger Nachbar im Norden, dem man sich insgeheim doch irgendwie überlegen fühlt, zumindest kulinarisch. Oder der Phantomschmerz verlorener Provinzen eines untergegangenen Imperiums. Sogar den skurrilen Titelkult, mit dem man längst abgeschaffte Adelsprädikate kompensiert, kennt man hier wie dort, was aber nichts mit dem gescheiterten Versuch Erzherzog Maximilians zu tun hat, Mexiko zu einer amerikanischen Habsburgermonarchie zu machen. Die kulturhistorisch wichtigste Verbindung ist freilich der im Weltmuseum Wien aufbewahrte Kopfschmuck, der einst als „Federkrone Montezumas“ bezeichnet wurde und als weltweit letzter seiner Art ein Kulturgut von höchster nationaler Bedeutung für Mexiko ist. Wer ihn zu welchem Anlass getragen hat, weiß man freilich nicht mehr so genau, wie man generell viel zu wenig über die von den spanischen Eroberern weitgehend ausgelöschte Kultur des alten Mexiko weiß. Oder vielmehr: wissen möchte. Wir könnten nämlich viel besser über die Azteken Bescheid wissen, würden wir die von ihnen selbst aufgeschriebenen historischen Texte lesen, ist die US-amerikanische Historikerin Camilla Townsend überzeugt. Sie hat genau das gemacht und auf der Basis ihrer Lektüre das Buch Fünfte Sonne. Eine neue Geschichte der Azteken geschrieben. Georg Renöckl hat es gelesen.

Bibliotheken sind für Camilla Townsend keine Orte der Stille, sondern Orte der Stimmen. Für die Historikerin sind dort Fragmente aller Konversationen hörbar, die die Welt je gekannt hat – oder vielmehr sollte das so sein: Nicht alle Stimmen sind nämlich gleich laut, und so manche vertraute historische Szene wirkt überhaupt wie falsch synchronisiert. So auch die letzten Momente einer legendären Prinzessin aus der Frühzeit der Azteken:

Sie erscheint oben auf der Pyramide in der Erwartung, auf grausame Weise geopfert zu werden, doch meist bleibt sie stumm. Die Stimme, die über die Szene gelegt wird, ist die eines Spaniers, der uns erzählt, was das Mädchen gedacht und geglaubt haben mag. Anstelle ihrer Worte hören wir die der Mönche und der Konquistadoren, deren Aufzeichnungen die Regale der Bibliothek füllen.

Die Berichte der Eroberer sind meist einseitig und tendenziös. Dabei sind wir gar nicht darauf angewiesen: Die Konquistadoren verbrannten zwar das gesamte aztekische Schrifttum, doch die nächste Generation der Überlebenden schrieb die Geschichte in lateinischer Schrift aufs Neue nieder. Zahlreiche dieser von den Spaniern „Annalen“ genannten Sammlungen sind erhalten, wurden aber bisher kaum für die historische Forschung genutzt. Camilla Townsend lernte Nahuatl, die Sprache der Azteken, und hörte deren vermeintlich bekannte Geschichte plötzlich ganz anders:

In den Annalen können wir die Azteken sprechen hören. Sie singen, lachen und schreien. Es zeigt sich, dass die Welt, in der sie lebten, nicht als von Grund auf morbide oder grausam bezeichnet werden kann, obwohl sie es in bestimmten Momenten war. […] Sie glaubten fest daran, dass man sich des Lebens erfreuen sollte: Sie tanzten fröhlich, sangen ihre Gedichte und liebten einen guten Scherz. Dabei wechselten Momente der Leichtigkeit, des Humors und der Ironie mit anderen Momenten voller Pathos und Ernst ab. Sie konnten keinen schmutzigen Fußboden ertragen, weil das auf eine tiefere Unordnung hinzudeuten schien. Vor allem aber waren sie flexibel. Änderte sich eine Situation, erwiesen sie sich als sehr anpassungsfähig. Sie hatten Erfahrung im Überleben.

Die Niederlage gegen die Spanier im Jahr 1521 ist nicht die letzte Katastrophe der Azteken, und sie ist auch nicht die erste. Gut 220 Jahre davor steht die bereits erwähnte Prinzessin auf der Opferpyramide. Sie heißt Chimalxochitl, auf Deutsch Schildblume, ist je nach Quelle die Tochter oder Schwester eines Häuptlings und wird nach einem verlorenen Krieg als Gefangene in die Stadt Culhuacan gebracht. Dort fordert sie selbst, geopfert zu werden, und kündigt die Rache späterer Generationen ihres Volkes an. Dazu Camilla Townsend:

Man muss nicht glauben, dass wir den genauen Wortlaut einer Ansprache aus dem Jahr 1299 vor uns haben, um zu wissen, dass das Wesentliche wahr ist. […] Wir wissen, wie sie Krieg führten, und kennen die symbolische Bedeutung der Töchter und Schwestern des Häuptlings, die zu Müttern der Häuptlinge der kommenden Generation erzogen wurden. Wir wissen sogar, dass die Menschen im Tal ihre vornehmen Töchter fast so wie deren Brüder zu einer stoischen Haltung in Zeiten der Not erzogen und dass Schildblume und Lilie geläufige indigene Namen für adlige Frauen waren. Kurzum, die Geschichte von Schildblume könnte die Geschichte von mehr als nur einer einzigen jungen Frau gewesen sein.

Dank ihrer Kenntnis der Annalen kann Camilla Townsend mit einer Reihe von Mythen über die mexikanischen Ureinwohner aufräumen. Etwa mit der verbreiteten Ansicht, dass die Azteken andere Völker zum Zweck eroberten, genügend Menschenopfer darbringen zu können. Vielmehr verfolgten sie mit ihren Kriegen wirtschafts- und machtpolitische Ziele.

Wie andere dominante Kulturen übten auch die Azteken zumeist an den Rändern ihrer politischen Welt Gewalt aus, und dies ermöglichte den Wohlstand, der einer strahlend schönen Stadt zu Wachstum und Blüte verhalf, einer Stadt, deren Bewohner die Muße und Energie besaßen, Gedichte zu verfassen, aromatische Schokoladengetränke zu erfinden und gelegentlich über Moral zu diskutieren.

Erst unter Moctezuma, der die frisch unterworfenen Völker einschüchtern wollte, wuchs die Zahl der Menschenopfer stark an. Townsend schildert den bei uns oft zu „Montezuma“ verballhornten Monarchen als einen Pragmatiker der Macht, der eine zwangsläufig verlustreiche Schlacht mit den technologisch überlegenen Spaniern vermeiden wollte. Selbst bei einem Sieg würde eine solche den Azteken als Schwäche ausgelegt werden und das fragile Machtgefüge ihres Reichs zum Einsturz bringen. Genauso sollte es schließlich kommen. Wenige Jahrzehnte später begannen die Kinder der Überlebenden mit den Aufzeichnungen.

Sie schrieben viele Seiten voll samt Dialogen und vielen Details, erfüllt von Wut und Hoffnung. Die Spanier fürchteten noch immer die mächtigen Azteken, aber was die Mexikaner nächtens ängstigte, war von anderer Art. Nachdem sie einst so viel Macht besessen hatten, befürchteten sie, dass alles wahre Wissen über die Welt, die sie bewohnt hatten, verloren gehen würde. Es war das Gespenst des Vergessens, das sie verfolgte.

Dieses Gespenst verscheucht Camilla Townsend. Ihre Zusammenschau der aztekischen Chroniken von Schildblumes Opfertod bis zu Moctezumas Enkeln ist glänzend erzählt, methodologisch reflektiert und mit einem ausführlichen Apparat versehen. Vor allem aber ist sie eine Einladung, die Geschichte neu zu hören – statt in der gewohnten spanischen Synchronfassung in aztekischer Originalversion.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.