Emotionales Erbe

Meine Rezension aus dem Falter-Bücherfrühling zu Galit Atlas‘ Buch „Emotionales Erbe“

Trauma, Sex und Therapie

Georg Renöckl in FALTER 12/2023 vom 24.03.2023 (S. 36)

Die Menschen, die wir lieben und die uns großgezogen haben, leben in uns; wir erfahren ihren emotionalen Schmerz, wir träumen ihre Erinnerungen, wir wissen Dinge, die uns nicht explizit übermittelt wurden, und all dies prägt unser Leben auf eine Weise, die wir nicht immer verstehen“, schreibt die aus Israel stammende Psychoanalytikerin Galit Atlas in ihrem Buch „Emotionales Erbe“. Gleich vorweg: Eine schlüssige Erklärung für diese rätselhaften Phänomene kennt auch die Autorin nicht. Dafür zeigt sie Möglichkeiten auf, mit dem Wissen um diese Übertragung konstruktiv umzugehen.

Die mittlerweile in den USA forschende und praktizierende Analytikerin, bekannt für ihre Publikationen zur Sexualität, erzählt in ihrem Buch die Fallgeschichten einiger Patienten. Benjamin etwa hatte schon als Kind oft Albträume, in denen er beinahe erstickte, und leidet seit dem Teenager-Alter an Klaustrophobie. Die privat und beruflich überaus erfolgreich wirkende Eve hat sich Hals über Kopf in eine Affäre gestürzt, durch die sie die Kontrolle über ihr Leben verliert. Leonardo gelingt es auch nach Jahren nicht, mit dem Schmerz nach einer Trennung fertigzuwerden.

„Wir erben Familientraumata – selbst jene, von denen uns niemand etwas erzählt hat“, ist Galit Atlas überzeugt. Die Geschichten von Benjamin, Eve, Leonardo und vielen anderen ihrer Patienten zeigen, wie selbst mehrere Generationen zurückliegende Traumatisierungen, aber auch Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit oder der Tod von Familienmitgliedern ein Leben prägen können. „In der Tat hat alles, was wir nicht bewusst über uns wissen, die Macht, unser Leben zu kontrollieren und zu bestimmen, genau wie die Brandungsrückströme unter der Meeresoberfläche ungeahnte Kräfte darstellen“, so Atlas.

Benjamin erfährt, dass sein jüdischer Großvater während der Shoah lebendig begraben wurde. Eve wird bewusst, dass ihre Mutter mit zwölf Jahren ihre eigene sterbende Mutter pflegen musste und emotional daran zerbrach. Der homosexuelle Leonardo findet heraus, dass sein Großvater vom Konflikt zwischen seiner Homosexualität und der Unmöglichkeit, diese auszuleben, in den Suizid getrieben wurde.

Die Traumata der Eltern und Großeltern, so Galit, führen bei Enkeln und Kindern zu Albträumen, psychischen Krankheiten, körperlichen Symptomen oder dem Zwang, bestimmte Muster zu wiederholen. Ähnlich verhalte es sich mit kollektiven Traumata, wie Atlas am Beispiel Israels zeigt, das als Nation von Holocaust-Überlebenden gegründet wurde, die keine Opfer bleiben wollen. Auch ein militärischer Sieg ist für die Psychoanalytikerin stets nur „eine Wiederholung des zugrunde liegenden Traumas, das er eigentlich hätte heilen sollen“.

In die Geschichten ihrer Patienten lässt Atlas neben Ausflügen in die Geschichte der Psychoanalyse auch aktuelle Erkenntnisse zur Epigenetik einfließen. Eine letztgültige Erklärung für all die überraschenden Zusammenhänge bietet freilich auch diese nicht.

Besser erforscht ist hingegen der Weg zur Überwindung der Traumata und ihrer Folgen: Wird die Ursache erkannt und kann dadurch Teil einer Erzählung werden, muss das Trauma nicht aufs Neue durchlebt werden. Seit Benjamin um den grausamen Tod seines Großvaters weiß, kann er endlich „aufhören, diese Tatsache in seinem Körper mit sich herumzutragen und sie immer wieder von Neuem zu erleben“. Eve erkennt, dass ihre Affäre ein Versuch war, gegen ihre von der Mutter geerbte innere Leblosigkeit anzukämpfen, und kann sich wieder ihrer Familie zuwenden. Seit Leonardo den Grund für die Verzweiflung seines Großvaters verstanden hat, kann er den eigenen Schmerz überwinden. Galit Atlas’ Schlussfolgerung: „Wenn wir uns bewusst erinnern, wird unser Körper befreit und darf vergessen.“

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