Emmanuel Carrère: Yoga

Bis 15. 5. nachzuhören unter https://oe1.orf.at/player/20220508/678416/1652018616368

Ein „heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga“ will der Erzähler schreiben. Das klingt nicht allzu schwierig, doch da es sich bei diesem Erzähler ausgerechnet um Emmanuel Carrère handelt, wirkt das Scheitern geradezu vorprogrammiert. Schließlich schreibt der 1957 geborene Pariser Autor, der auch im deutschen Sprachraum im Jahr 2001 mit seinem Buch Amok bekannt wurde, nie einfach nur über ein Thema. Carrère schreibt stets auch – und oft sogar vor allem – über sich selbst. Und da ist es mit der Heiterkeit sehr schnell vorbei. Denn Emmanuel Carrère hat zwar viele Eigenschaften, er ist vielsprachig, belesen und weitgereist, freilich auch egozentrisch und narzisstisch, und bestimmt ist er auch ausgesprochen feinsinnig. Nur heiter, das ist Carrère, der immer wieder mit Depressionen zu kämpfen hat, eben genausowenig wie seine Bücher. Diese entziehen sich den gängigen Genre-Bezeichnungen, mischen Reportage, Essay und Autobiographie, und sie thematisieren stets auch das Erzählen und den Schreibvorgang selbst. 

So auch das Buch Yoga, das zu Beginn viele tatsächlich heitere Momente enthält. Carrère begibt sich auf ein zehntägiges Vipassana-Seminar, eine Art Meditations-Intensivtraining: Man verpflichtet sich dabei zu zehntägigem Schweigen und zu zehn Stunden täglicher gemeinsamer Meditation in einer großen Turnhalle, sowie zu einer Anreise ohne Bücher, Schreibzeug oder Handy. Carrère, der seit Jahrzehnten täglich meditiert bzw. Yoga betreibt, geht mit einer Mischung aus ernsthaftem Bemühen und gesunder Skepsis an die Sache heran. Er kennt verschiedene Yoga-Schulen und -Traditionen aus eigener Erfahrung, ist ehrlich neugierig auf das Seminar und stellt sich doch immer wieder Fragen wie: „Ist das nicht doch irgendwie Nordkorea?“ oder „Ist diese Weisheit nicht ein bisschen zu weise und brav? Ist Sex nicht ganz einfach wahrer?“

Doch so heiter Kapitelüberschriften wie „Besoffen meditieren“ klingen mögen, so hartnäckig sind die alten Dämonen, die den Erzähler auch beim Meditieren quälen. In den langen reglosen Stunden spürt Carrère förmlich das Elend und das Böse dieser Welt über sich hereinbrechen: „Das Elend des Mörders, des Pädophilen, des Serienmörders, das Elend desjenigen, der gegen seine schlimmsten Triebe ankämpft und den Kampf verliert und von Anfang an weiß, dass er ihn verlieren wird. Das Elend, das wir alle kennen, wenn wir in einer schlimmen Nacht im kalten, grellen Licht auf einer Klobrille sitzen und an das vorteilhafte Bild denken, das wir verzweifelt von uns abzugeben versuchen, und an die grausame Wahrheit dessen, was uns in Wirklichkeit, in den verborgensten Winkeln unserer Herzen und Klos beherrscht. Angst, Scham und Hass: die große Dreifaltigkeit.“

Während sich Carrère meditierend gegen seine inneren Abgründe stemmt, wird die Redaktion von Charlie Hebdo von Terroristen gestürmt. Unter den Erschossenen ist ein Freund, Charlie-Miteigentümer Bernard Maris, dessen Lebensgefährtin den Schriftsteller um die Grabrede bittet. Mit dem Yoga ist es fürs erste vorbei: „Vergleicht man das in diesen Tagen in Paris vergossene Blut und die Tränen, vergleicht man Bernards Hirn auf dem Linoleumboden der armseligen kleinen Redaktionsstube von Charlie, vergleicht man das zerstörte Leben von Hélène – um hier nur die zu erwähnen, die ich kenne – mit unserem Konklave von Meditierenden, die damit beschäftigt waren, in ihren Nasenlöchern ein- und auszugehen und schweigend ihr Bulgur mit Gomasio zu kauen, dann ist die eine Erfahrung einfach wahrer als die andere.“ Der Erzähler fährt zwar auf ein weiteres Vipassana-Seminar, doch nur wenige Seiten später begegnen wir einem völlig veränderten Emmanuel Carrère, der gerade in eine tiefere Krise gestürzt ist als je zuvor. 

Was genau dazu geführt hat, erfahren wir nicht, jedenfalls nicht in Carrères Buch. Die Leerstelle wurde im Herbst 2020 von der Pariser Presse gefüllt: Grund für den psychischen Zusammenbruch Carrères war die Trennung von seiner Frau Hélène Devynck. Diese hatte sich jedoch vertraglich zusichern lassen, nicht mehr in den Texten des Autors vorzukommen. Einige Passagen der ersten Version von Yoga mussten daher gestrichen werden, um einen Prozess zu vermeiden.

Suizidgefährdet landet der Erzähler in einer geschlossenen Anstalt, wo eine schwere bipolare Störung diagnostiziert wird und er vier Monate verbringt. Auch diese Erfahrung schildert er mit rücksichtsloser Offenheit: Die belauschten Gespräche der Ärzte, die Diagnosen, die Stimmen, die er hört, die Wahnvorstellungen, die Therapie mit Elektroschocks und schweren Medikamenten.

Wieder halbwegs hergestellt reist Carrère auf die Insel Patmos, wo er ein Ferienhaus hat. Das friedliche, harmonische Leben dort ist ihm jedoch unerträglich. Als ihm das Ausmaß der Flüchtlingstragödie bewusst wird, die sich gerade in unmittelbarer Nähe abspielt, nimmt er kurz entschlossen die Fähre, um auf der benachbarten Insel Leros bei Schreib- und Englischseminaren für Flüchtlinge mitzuarbeiten und deren Geschichten zu erzählen, wobei er wieder in eine Art Gleichgewicht kommt: „Ich bin weder fröhlich noch traurig, ich werfe den guten alten Hunden ihre Stöckchen hin, das Stöckchen der Selbstgefälligkeit, das Stöckchen des Selbsthasses, das Stöckchen der verpassten Chance und des bitteren Geschmacks der verpassten Chance, und es ist ziemlich überraschend, aber Tatsache ist, ich fühle mich fast wohl.“

Ein nächstes tragisches Ereignis, der Tod seines Freundes und Verlegers Paul erschüttert das fragile innere Gleichgewicht Carrères. Dennoch schafft er es, auf den letzten Seiten nicht nur einen berührenden Nachruf auf die gescheiterte Liebe zu Hélène unterzubringen und auch gleich seine nächste, sich gerade anbahnende Liebesgeschichte anzudeuten, sondern auch noch, all die scheinbar losen Fäden seiner Erzählung zu bündeln und seinem Buch über das Yoga ein Ende zu geben, das all die Nebenstränge und unerwarteten Wendungen im Nachhinein stimmig wirken lässt.

Freilich ist das geplante heitere, feinsinnige Büchlein über Yoga letztendlich weniger feinsinnig als vielmehr dramatisch geworden, und eher verstörend als heiter. Und auch ein Büchlein ist es nicht, sondern ein großes Buch eines großen Erzählers.

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