Eine Stadt aus Licht, Luft und Beton

Für die „Presse“ habe ich diesen Sommer einen Abstecher nach Le Havre gemacht – hier nun, gerade noch rechtzeitig im Jubiläumsjahr, der Bericht darüber:

Eine Stadt aus Licht, Luft und Beton

Le Havre, seit 2005 Unesco-Weltkulturerbe, feiert seinen fünfhundertsten Geburtstag und staunt über sich selbst

„Fünfhundert Jahre Geschichte, das ist die Gelegenheit, der Welt zu sagen, wer wir sind und was wir können.“ Selbstbewusst formuliert Le Havres ehemaliger Bürgermeister Edouard Philippe die Idee hinter den Jubiläumsfeierlichkeiten der Stadt an der Seine-Mündung, die im Jahr 1517 vom Renaissance-König Franz I. gegründet wurde. Zwanzig Millionen Euro lassen sich Stadt, Hafen, private Investoren und umliegende Gemeinden das runde Geburtstagsfest kosten. „Wir wollen das Image der Stadt nachhaltig korrigieren“, erklärt Thomas Malgras, Koordinator der Aktivitäten im Jubiläumsjahr, sein ungewöhnlich hohes Budget. Künstler von Weltrang wurden nach Le Havre eingeladen, um die Stadt, die sich als Tourismus- und Wirtschaftsstandort neu positionieren will, ins rechte Licht zu rücken.

Tatsächlich gilt vielen Franzosen Le Havre nach wie vor als wenig einnehmend, gar trist, und etwas gewöhnungsbedürftig ist das Stadtbild tatsächlich: Der hochseetaugliche Hafen, dem die Stadt ihre Gründung verdankt, wurde ihr auch zum Verhängnis. Die Wehrmacht baute die als „Tor zu Frankreich“ geltende größte normannische Stadt zur Festung aus. 10 000 Tonnen Bomben warf die Royal Air Force im September 1944 über dieser ab. 5000 Menschen starben in den Trümmern, vom historischen Zentrum blieb nur ein Teil der Notre-Dame-Kirche stehen. Die Geburtsstätte des Impressionismus, in der Monet sein berühmtes Bild „Impression, soleil levant“ malte, war ausgelöscht. Über 80.000 Menschen hatten ihre Wohnungen verloren.

Mit dem Wiederaufbau der 150 zerstörten Hektar des Stadtzentrums wurde Auguste Perret beauftragt, seit den 1920er Jahren ein Pionier des Bauens mit Beton. „Das Dumme war nur: Der damalige Bürgermeister von Le Havre hasste Beton“, berichtet Françoise Gasté über eine der Schwierigkeiten, mit denen der Architekt konfrontiert war. Madame Gasté führt durch die „Zeugen-Wohnung“, eine mit Originalmöbeln ausgestattete typische Wohnung der Wiederaufbauzeit, wie sie zu Tausenden gebaut wurden. Was im Inneren – neben den heute todschicken Nachkriegsmöbeln – sofort auffällt: Es gibt keine dunklen Gänge, bodentiefe Fenster in zwei Himmelsrichtungen sorgen für viel Licht und Frischluft. „Das alte Le Havre war zwar eine schöne, aber auch schmutzige und enge Stadt“, erklärt Françoise Gasté, „Perret und seine Mitarbeiter haben die Wohnblocks so angelegt, dass ein Maximum an Licht in großzügige, ruhige Innenhöfe fallen konnte.“

2005 verlieh die Unesco dem wiederaufgebauten Stadtzentrum das Prädikat „Weltkulturerbe“ – nicht nur zum Stolz, sondern auch zum Erstaunen mancher Einheimischer: Françoise Gasté erzählt amüsiert von Besuchern der Zeugen-Wohnung, die sich angesichts der Möbel ihrer Kindheit daran erinnern, wie ihre Eltern die hochwertigen Vollholz-Stücke zu ofengerechten Scheiten zerhackten, als man sich endlich etwas Moderneres bei Ikea leisten konnte.

Zum Beton Auguste Perrets gesellt sich in der Stadtmitte der Beton Oscar Niemeyers: Le Volcan heißt das emblematische Kulturzentrum des brasilianischen Meisterarchitekten am alten Hafen, das mit seinen runden Formen einen spannungsreichen Kontrast zu Perrets rechtwinkeliger Architektur darstellt. Heute ist eines der wichtigsten Nationaltheater Frankreichs darin untergebracht, sowie die neue städtische Bibliothek, ein Musterbeispiel für gleichermaßen spektakuläre wie benutzerfreundliche Innenarchitektur.

Vier Kunst-Spaziergänge schlägt die Stadt ihren Besuchern des Jahres 2017 vor, alle beginnen sie bei Niemeyers Volcan, von dem aus man Stéphane Thidets Installation impact bewundern kann, eine Brücke aus zwei Wasserstrahlen, die – sofern kein allzu starker Wind weht – genau in der Mitte des Hafenbeckens aufeinandertreffen und dabei eine stets in Bewegung bleibende Wolke aus Wasserstaub bilden.

Nur ein Katzensprung ist es zum Rathaus, einem der Wahrzeichen der Stadt. Dort lädt ein entfernt an ein Münzfernrohr erinnerndes Gerät zum Blick in die Vergangenheit ein: „Timescope“ nennt sich diese von einem Pariser Startup entwickelte Zeitmaschine, die ihre Benützer dank Virtual Reality ins Le Havre des Jahres 1944 versetzt – eine beeindruckende Reise in die Ruinenlandschaft nach den Bombardements, die einen den Rathausplatz und die Avenue Foch, Le Havres Prachtstraße, in einem noch viel freundlicheren Licht sehen lässt. Die großzügige Avenue – breiter als die Champs Élysées, wie Einheimische gern betonen – endet in der dem Meer zugewandten „Porte Océane“. Von dort aus fällt der Blick auf die Balken der Skulptur UP#3 des amerikanisch-schweizerischen Duos Lang & Baumann, die eigentlich auf einem der beiden symmetrischen Gebäude der Ozeanpforte stehen sollte. Statische Bedenken verhinderten den Plan, doch auch mitten auf dem Stadtstrand wirkt sie stimmig. Dessen traditionell weiße Strandhäuschen geben sich heuer bunt: Der Schwede Karl Martens ließ die Gründungsurkunde der Stadt durch Mathematiker in einen Farbcode übertragen und malte diesen auf die Strandkabanen. Das markanteste Gebäude der Stadt ist die an einen Leuchtturm erinnernde Kirche Saint-Joseph, die im Gedenken an die Opfer von 1944 errichtet wurde. Die japanische Textilkünstlerin Chiharu Shiota lässt im Inneren des schwindelerregenden Kirchturms einen roten Wollwirbel namens  Accumulation of power   aufsteigen – ein erhebender Anblick, von dem man sich lang nicht losreißen kann. Dabei wartet am Hafen das 1961 gebaute Museum Moderner Kunst, in dem das französische Fotografen-Duo Pierre & Gilles eine Werkschau grell-bunter Porträts schillernder Persönlichkeiten zeigt, von Madonna über Marilyn Manson bis Conchita Wurst. Am Hafen steht mit Vincent Ganivets Catène de Containers eine temporäre Installation, die das Zeug zum künftigen Wahrzeichen Le Havres hat: Zwei Bögen aus buntgestrichenen Containern, wie sie zu zigtausenden tagtäglich hier auf- und abgeladen werden, bilden ein neues Eingangstor in die Stadt. Deren Prachtstraße, die Rue de Paris, führt an der zur Kathedrale erhobenen Notre-Dame-Kirche aus dem 16. Jahrhundert zurück ins Zentrum und zu Niemeyers Volcan. Wer Lust hat, kann von dort zu weiteren Touren aufbrechen, etwa zu den alten Hafenbecken, wo sich einst bretonische Arbeiter ansiedelten und man heute noch hervorragend Crêpes essen kann. Oder doch besser in Richtung der alten Docks, einen weiteren Kunst-Pfad entlang, und dort einen Sprung in Jean Nouvels neues Schwimmbad machen? Ein dichter Reigen an Konzerten, Partys und Paraden macht die Auswahl nicht leichter – die Stadt mit der schwierigen Geschichte ist heute eine energiegeladene, pulsierende Kulturmetropole.

„Wir haben Künstler von Weltrang nach Le Havre eingeladen, dabei aber klar gemacht, dass Le Havre nicht nur als Bühne dient, sondern im Zentrum steht. Die Künstler sollten Werke eigens für diese Stadt schaffen. Der Zusammenhang zwischen der Kunst und der Stadt muss ins Auge springen“, erinnert Thomas Malgras an das von Jean Blaise erdachte Konzept der Kultur im öffentlichen Raum. „Nehmen Sie das Beispiel Saint Joseph: Natürlich kommen viele Besucher vor allem, um das Werk Chiharu Shiotas zu sehen. Und dabei nehmen sie die Kirche ganz neu wahr und beginnen, sich mit der Geschichte der Stadt auseinanderzusetzen.“

Kaum zu glauben, dass das alles nach wenigen Monaten wieder verschwinden soll. Vor dem Container-Tor am Hafen lächelt Thomas Malgras verschmitzt: „Nun, die Bögen hier sind wie viele andere Kunstwerke so gebaut, dass sie eigentlich auch stehenbleiben könnten. Aber wissen Sie, was es heißt, in einem denkmalgeschützten Ensemble eine Genehmigung dafür zu beantragen?“ Den Organisatoren sei früh klar geworden, dass sie ihr Programm nur dann würden umsetzen können, wenn es sich um zeitlich begrenzte Interventionen im öffentlichen Raum handelt. „Wir haben allerdings den Eindruck, dass sich die Bewohner der Stadt schon jetzt stark mit einigen Kunstwerken identifizieren. Ich glaube nicht, dass wir alle wieder abbauen müssen“, setzt Malgras auf die Volksseele. Dass die Taktik aufgehen kann, weiß man in Frankreich nur zu genau: Für die Pariser Weltausstellung von 1889 baute ein gewisser Gustave Eiffel einen ebenfalls nur als Provisorium gedachten Turm…

Dem Charme der Stadt kann man aber auch weitab der Hochkultur erliegen: Etwa auf dem Fischmarkt, wo neben Seezungen, Makrelen und ganzen Haien unzählige Hummer und Taschenkrebse auf den Tischen der Fischer liegen, die hier vormittags ihren Fang verkaufen. Vor allem Seespinnen sind bei den Einheimischen beliebt: „Sie schmecken ganz anders als Taschenkrebse, ungleich feiner“, erklärt ein Herr, der sich gerade fünf imposante Tiere hat einpacken lassen. „Aber man kann Pech haben: Manche sind innen fast hohl!“ – eine Frage des Vertrauens zum Händler, der die zappelnden Tiere mit der Hand abwägt. „Wenn Sie kleine Krabben nehmen, sind Sie auf der sicheren Seite“, fährt der Kenner fort: „Die sind immer voll, dafür machen sie beim Essen mehr Arbeit“.

Spaziert man immer weiter am Meer entlang, vorbei an der neuen Strand-Skulptur und den bunten Kabanen, erreicht man irgendwann das „Ende der Welt“, wie der äußerste Strandabschnitt heißt. Er gehört bereits zur Gemeinde Sainte-Adresse, deren Strand nicht nur einem weiteren berühmten Bild Monets den Namen gibt, sondern auch für seine ganz eigene melancholische Poesie bekannt ist: Nach dem Bombenhagel von 1944 wurde hier der Schutt ins Meer gekippt. Über die Jahre schliffen die Gezeiten die Reste der alten Häuser rund, sodass man immer wieder Strandkiesel findet, in denen noch eine alte Wandfliese oder ein Mauerrest erkennbar ist – heute sind diese Erinnerungsstücke des alten Le Havre bei Sammlern beliebt, auch wenn die „neue“ Stadt ihren Stolz längst wiedergefunden hat. „Wir denken, dass man 2017 in Le Havre und sonst nirgends gewesen sein muss“, verkündete Edouard Philippe, mittlerweile Frankreichs Premierminister, bei der Eröffnung der Feierlichkeiten. Wer die Impressionen eines langen Tages in Le Havre in der Strandbar „Au bout du monde“ Revue passieren lässt, wo man sich nach der Strandwanderung eine längere Pause redlich verdient hat, wird ihm uneingeschränkt Recht geben.

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