Ein Spaziergang über die Champs Elysées, erschienen in der Presse vom 26. 11. 2022 : Die etwas abgerockten Champs-Elysées werden für die Olympischen Spiele von 2024 auf Vordermann gebracht. Zeit wird’s.
Wer Duty-Free-Shops mag, liebt die Champs-Elysées. Die Düfte von Chanel und Givenchy, die Logos von Hermès und Dior verführen uns schließlich nicht etwa dazu, die Zeit am Flughafen durch sinnloses Luxus-Shopping totzuschlagen. Man nützt vielmehr die günstige Gelegenheit, einen Hauch Paris von der Reise mitzunehmen. Von dort kommen schließlich fast all die unwiderstehlichen Verlockungen, die inmitten der blankpolierten Ödnis der Transitzonen dieses Planeten auf uns lauern. Sie sind auf einer Straße zu Hause, deren bloße Erwähnung weltweit die Augen zum Leuchten bringt: Oh, die Champs-Elysées! Gleich möchte man nach Paris jetten, frei nach Joe Dassin über die schönste Avenue der Welt flanieren, einer oder einem Unbekannten ein fröhliches „Bonjour!“ zurufen und abwarten, was passiert.
Straße der Touristen
Nun, vielleicht holt man sich ja das Paris-Syndrom. Vor allem aus Fernost Angereiste sollen sich gelegentlich einen schweren Schock zuziehen, wenn ihre romantischen Vorstellungen von der schönsten Stadt der Welt und die nicht ganz so rosige Realität aufeinanderprallen. Für Romantik ist auf der weltberühmten Straße trotz ihrer 21,5 Meter breiten Gehsteige jedenfalls kein Platz. Acht Kfz-Spuren sorgen für eine toxische Mischung aus Lärm, Aggression und Abgasen, die den von der WHO festgelegten Stickstoff-Grenzwert um das Doppelte überschreiten und Einheimische längst in die Flucht geschlagen haben. Zwar spazieren gut 100.000 Fußgänger täglich über die Avenue, doch nur fünf Prozent von ihnen leben in Paris. Von wegen „Bonjour“, „il y a tout ce que vous voulez“ und so weiter.
Von der Handvoll Pariser, die es während der pandemiebedingten Lockdowns wieder etwas häufiger auf „ihre“ Prachtstraße verschlagen hat, hört man eher Derberes: Im Frühjahr 2021 nahm ausgerechnet an der vermeintlich glanzvollsten Meile der Metropole ein Bürgerprotest seinen Ausgang, der die Verwahrlosung der Stadt unter dem Hashtag #SaccageParis anprangert und die Stadtverwaltung seither ganz schön ins Schwitzen bringt.
„Saccage“, also „Verwüstung“ mag ein etwas pointierter Befund sein, doch wer sich die Champs-Elysées genauer anschaut, wird den Wut-Twitteranten zumindest ein Stück weit recht geben. Die Avenue präsentiert sich in einem lamentablen Zustand. Das Pflaster ist holprig, die relativ neue Straßenmöblierung längst schäbig geworden, ohne zwischendurch Patina anzusetzen. Zahlreiche Nobel-Flagship-Stores stehen leer, immerhin sind die Fast-Food-Lokale brechend voll. Das Bling-Bling ist stumpf geworden, die einst so vornehme Avenue wirkt wie eine Ramschmeile für Luxusprodukte.
Alle paar Meter stellen sich gut informierte Power-Shopper in sündteuren Badeschlapfen hinter Absperrgittern an, um keinesfalls die gerade angesagtesten Pre-Sales und Special-Collections zu verpassen. Sogar die aus den Warenhäusern herauswabernden Parfumwolken riechen irgendwie billiger als im Duty-Free-Shop, was womöglich an der notorisch miesen Luftqualität liegt, die auf den Champs-Elysées sogar schlechter ist als an der Ringautobahn Périphérique.
Manifest für urbane Schönheit
Die allerorts emporwachsenden Bauzäune versprechen Abhilfe: Wenn 2024 zu den Olympischen Spielen noch ein paar Hunderttausend Touristen mehr in die französische Hauptstadt strömen, darf ihr die Prachtstraße keine Schande machen. Die Stadtregierung, von den in ihrer ästhetischen Ehre gekränkten Einheimischen von #SaccageParis in die Mangel genommen, hat sich mittlerweile selbst ein „Manifest für die urbane Schönheit“ auferlegt. Mit modernen Stadtmöbeln und ähnlich tollkühnen Experimenten ist fürs Erste Schluss. Die Champs-Elysées werden sich 2024 wohl mit saniertem Belag, stilistisch einwandfreien Bänken und Kandelabern, vor allem aber mit deutlich mehr Begleitgrün präsentieren.
Doch das ist alles nur ein provisorisches Facelifting: Richtig umgebaut wird erst nach den Spielen, wenn sich die Avenue laut Bürgermeisterin Anne Hidalgo zum „außergewöhnlichen Garten“ mausern soll – im Jahr 2030.
Es wird also viel Neues im Westen geben, doch nicht gleich. Was tun, wenn man nicht so lang warten möchte, eine Paris-Reise ohne Abstecher auf die „Champs“ aber irgendwie nicht vollständig findet? Man geht natürlich trotzdem hin. Schließlich bietet die Straße Attraktionen, denen weder urbanistische Moden noch lockere Pflastersteine etwas anhaben können. Die eine oder andere erhaltene Passage aus dem 19. Jahrhundert etwa, zum Beispiel auf Nr. 76, wenn dort auch ein überdimensionierter Starbucks und ein Laden für Plastikhunde und ähnlichen Klimbim das Vergnügen beeinträchtigt. Oder man gönnt sich ein Frühstück bei Fouquet’s, einer der verlässlich nobel gebliebenen Adressen schräg gegenüber vom McDonald’s.
Wer rechtzeitig gebucht hat, kann sich auf Nr. 25 auf ein architektonisches Highlight der Avenue freuen, das ein Geheimtipp geblieben ist: das Palais „der“ Païva, wie sich die 1819 in Moskau geborene Kurtisane Esther Lachmann nach ihrer Heirat mit einem portugiesischen Adeligen nannte, den sie bald wieder verließ, um ihren langjährigen Geliebten Guido Henckel von Donnersmarck zu ehelichen. Dieser galt als reichster Mann Europas und ließ seiner ehrgeizigen und gebildeten Mätresse bei der Ausgestaltung ihres Stadtschlosses freie Hand. Das prachtvolle, verschwenderisch mit erotischen Details und kostbarsten Materialien ausgestattete Intérieur blieb der Nachwelt unverändert erhalten. Heute ist das Stadtpalais Sitz des englischen Traveller’s Club und nur gelegentlich für Besucher geöffnet.
Auch Kurioses zu ersteigern
Gleich nebenan liegt mit dem eleganten Palais Marcel-Dassault eine leichter zugängliche, ebenfalls kuriose Adresse: Artcurial, ein Auktionshaus, in dessen Gängen man die erstaunlichsten Stücke bewundern – und später natürlich auch ersteigern – kann: einen Helm Ayrton Sennas etwa, die Zeremonienuniform eines Marschalls aus dem Ersten Kaiserreich oder ein signiertes Kochbuch von Alain Ducasse.
Dieser ist zwar nicht mehr Küchenchef des Luxushotels Plaza Athenée gleich ums Eck, dennoch lohnt sich ein kurzer Abstecher in die hier abzweigende Avenue Montaigne. Mit viel Understatement reihen sich dort Flagship-Stores von Jil Sander, Barbara Bui, Marni, Salvatore Ferragamo, Max Mara, Louis Vuitton und wie sie noch alle heißen aneinander, diskrete Herren in dunklen Anzügen stehen vor den Toren, und je näher man dem adrett geraniengeschmückten Plaza Athénée kommt, umso höher wird die Dichte an parkenden Lamborghinis und Rolls-Royce-SUVs mit Kennzeichen aus Katar und Umgebung.
70 Meter breite Schneise
Auf die plötzlich verhältnismäßig bescheiden wirkenden Champs-Elysées zurückgekehrt, sollte man sich nicht von der Mischung aus Moncler und McDonald’s, Saint Laurent und Starbucks ablenken lassen, will man die zeitlose, von allen Äußerlichkeiten unabhängige Eleganz der berühmten Meile auf sich wirken lassen. Denn im Grunde geht es hier nicht um die Oberfläche, die sich in einer so gut wie ausschließlich dem Shopping gewidmeten Straße natürlich laufend verändert.
Der wahre Luxus ist der Raum, den die Avenue einnimmt: Eine knapp zwei Kilometer lange, über siebzig Meter breite Schneise, die mitten durch eine der am dichtesten besiedelten Hauptstädte der Welt führt – das ist eine Ansage, die einem dann doch jedes Mal aufs Neue die Sprache verschlägt.
Reitweg und Radweg
Freilich geht es sogar noch ein bisschen breiter: Die vom Triumphbogen südwestlich stadtauswärts führende Avenue Foch ist von einer erhabenen Weite, die man zu Fuß gar nicht richtig erfassen kann. Dafür ist sie auch nicht gedacht: Links und rechts der Hauptfahrbahn ließ man breite Streifen nicht asphaltiert, um den Anrainern den Ritt zu Pferd in den nahen Bois de Boulogne angenehmer zu machen. Mit Shopping und ähnlich banalen Tätigkeiten wollen die Bewohner der vielen diskreten Residenzen hier natürlich nichts zu tun haben.
Wen die Reitwege der Avenue Foch jedoch an den Ratschlag Balzacs erinnern, das „Gedicht von Paris“ unbedingt hin und wieder durch einen schnellen Ritt auf einem englischen Pferd zu genießen, der oder die kann dem Rat dank omnipräsenter Leihradstationen unkompliziert und günstig folgen.
Die Fahrt rund um den Triumphbogen selbst ist nur für die Adrenalin-Junkies unter den Stadtradlern empfehlenswert. Doch die Champs-Elysées hinunter in Richtung Zentrum führt seit ein paar Jahren ein brauchbarer Radweg, der die alte royale Achse zum königlichen Radvergnügen werden lässt.
Seit diesem Sommer unbedingt zu empfehlen ist die Verlängerung der Fahrt quer über die verkehrsberuhigte Place de la Concorde, wo sich am Eck zur Orangerie am Rand des Tuileriengartens die Einfahrt in einen einst dem Autoverkehr vorbehaltenen Tunnel befindet. Diese mittlerweile Fußgängern und Radfahrern vorbehaltene Zufahrt zur einstigen Schnellstraße am Seine-Ufer wurde im vergangenen Frühjahr zur Streetart-Galerie umgestaltet, an deren Ende ein grandioser Ausblick auf die Ile de la Cité wartet.
Die Prachtstraße hat man an dieser Stelle freilich schon weit hinter sich gelassen. Doch wer weiß: Sollten die Renderings von Bürgermeisterin Hidalgos „außergewöhnlichen Gärten“ 2030 tatsächlich Wirklichkeit werden, dann sind sie beim nächsten oder übernächsten Besuch vielleicht doch wieder ganz schön oho, diese Champs-Elysées.
IMAGE UND REALITÄT: AUF DEN CHAMPS-ELYSÉES
Frühstück: Fouquet’s: 99, Avenue des Champs-Elysées, +33 1 40696050
Mittag und Abend: Vergleichsweise günstiges Alpin-Restaurant von Sternekoch Marc Veyrat im Kongresszentrum, ganz in der Nähe des Triumphbogens. 2, Place de la Porte Maillot, rural-paris.fr
Kunst und Kuriosa: Artcurial: 7, Rond-Point des Champs-Elysées, artcurial.com
Anschauen: Hôtel de la Païva: 25, Avenue des Champs-Elysées, Führungen durch verschiedene Anbieter, z. B. paris-promeneurs.com, billetreduc.com
Hôtel de la marine: Ehemaliges Marine-Ministerium an der Place de la Concorde, nach langjähriger Renovierung seit 2021 zu besichtigen: 2, Place de la Concorde, hotel-de-la-marine.paris
Musée Ennery: Sehr sehenswerte, zum Museum gewordene Asiatica-Sammlung einer engen Freundin Georges Clemen-ceaus. +33 1 56525345. 59, Avenue Foch
Mit dem Rad: Vélib‘: praktisches Pariser Leihrad-System, velib-metropole.fr; Tipp: vorab „Pass“ für bis zu drei Tagen ordern
Infos: Atout France, france.fr/de