Falter-Bücherherbst ist: Meine Rezension zu Gérald Bronners etwas polemischem Essay „Kognitive Apokalypse“.
Nur der Irrtum braucht die Macht des Staates. Die Wahrheit setzt sich von allein durch“, meinte einst Thomas Jefferson. „That didn’t age well“ gehört noch zum Freundlichsten, was man aus heutiger Sicht über dieses Zitat sagen kann. Es wurde auch in die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von 1996 aufgenommen, die vom naiven Optimismus der Pionierzeit des World Wide Web geprägt ist. Wer sich ein Vierteljahrhundert später angesichts der wiedererstarkten Flacherdler-Bewegung und marschierender Troll-Armeen fragt, wie wir in so kurzer Zeit in eine so missliche Lage kommen konnten, findet in Gérald Bronners Essay „Kognitive Apokalypse“ eine mögliche Antwort.
Für den an der Sorbonne lehrenden französischen Soziologen leben wir mittlerweile nämlich in einem „deregulierten kognitiven Markt“, der uns einen Spiegel vorhält: Je geringer der Einfluss vermittelnder Instanzen und traditioneller Gatekeeper wie etwa Journalisten auf das verfügbare Informationsangebot ist, desto deutlicher wird das Bild, das die Menschheit in Form digitaler Spuren von sich selbst zeichnet. Und dieses Bild ähnelt nicht etwa einer seit der Aufklärung verbreiteten, durch Rationalität geformten Idealvorstellung des Menschen. Für Bronner zeigt sich durch die Deregulierung des kognitiven Markts vielmehr eine „nicht naive, oder, wenn man so will, realistische Anthropologie: Die Tatsache, dass unser Gehirn Aufmerksamkeit für jegliche egozentrische, auf Streit ausgerichtete, mit Sexualität oder Angst zusammenhängende Information entfaltet, zeichnet die Umrisse eines sehr realen Homo sapiens.“
Und dieser Homo sapiens von heute verbringt seine Zeit eben damit, auf Bildschirmen herumzuwischen, dabei nach Sex und Skandalen zu suchen und sich von haarsträubenden Unsinnigkeiten in die Irre leiten zu lassen, wenn sie nur gut erzählt sind. Wie konnten sich die vielen Denker und Utopisten, von denen Bronner einige der wichtigsten herbeizitiert, nur so täuschen? Schließlich würden wir doch in einer Epoche leben, in der ein großer Teil der Menschheit dank des atemberaubenden technologischen Fortschritts der letzten Jahrzehnte nur einen verschwindend geringen Teil seiner Energie für Hausarbeit, Broterwerb und dergleichen einsetzen müsse. Jedenfalls geht das aus historischen Vergleichen und Statistiken hervor, aus denen Bronner zitiert. Von den Zwängen des Überlebenskampfs befreit, stehe uns heute so viel „freigesetzte Gehirnzeit“ zur Verfügung wie noch nie. „Unsere Vorfahren träumten häufig von diesem Augenblick, den wir heute erleben“, so Bronner. „Aber sahen sie auch voraus, dass aus diesem Traum ein Albtraum werden kann?“
Bronner zählt in seinem fakten- und anekdotenreichen Buch viele Facetten und Absurditäten unseres von Social Media, Fake News & Co geprägten Zeitalters auf, warnt jedoch davor, das Smartphone zum Sündenbock zu machen: „Wer den Bildschirmen die Schuld gibt, jagt Schimären nach, denn sie sind lediglich die Vermittler zwischen dem hypermodernen Charakter des kognitiven Marktes und den sehr alten Funktionsweisen unseres Gehirns.“
Diese Gesellschaftsdiagnose erklärt auch den Titel von Bronners Buch: „Apokalypse“ versteht er im biblischen Sinn als „Offenbarung“.
Pathologie, Anthropologie, Offenbarung: Vor der großen Geste schreckt der streitbare Soziologe nicht zurück. Er belegt seine Positionen durch eine Fülle von Studien und Anekdoten von unterschiedlicher Überzeugungskraft: Während er die von führenden Anthroposophen geäußerte Theorie, die Covid-19-Pandemie sei dem Aufstellen von 5G-Masten geschuldet, genüsslich als Verwechslung von Korrelation und Kausalität enttarnt, wird ihm nicht jeder bei der Ansicht folgen, man könne nicht gleichzeitig gegen Atomkraft und für den Kampf gegen den Klimawandel sein. Auf die anschließende Feststellung, dass uns „eine auf Ängste ausgerichtete Aufbereitung der Welt“ in unserer Handlungsfähigkeit lähmt, wird man sich hingegen wieder einigen können. Für Bronner macht uns die permanente Inszenierung von Angstmachendem aller Art „seltsam apathisch angesichts von Risiken, die uns durchaus bewusst sind. Die Angst hat sich also offenbar eines Teils des kostbaren Schatzes bemächtigt, den unsere mentale Verfügbarkeit darstellt.“
Dass auf dem deregulierten kognitiven Markt Angebot und Nachfrage genau aufeinander abgestimmt sind, ist demnach kein Grund zur Freude: Aufgrund der Evolution besonders für Bedrohungen sensibilisiert, neigen wir dazu, uns viel zu großzügig aus den reich gefüllten Regalen im „Supermarkt der Ängste“ zu bedienen.
Bronner warnt davor, die Verantwortung für das wenig schmeichelhafte Bild, das die Menschheit derzeit abgibt, im Gefolge von Adorno, Bourdieu oder Chomsky auf die Hegemonie des Bürgertums oder die Manipulation der Massen zum Zwecke ihrer Unterjochung zu schieben. Andererseits würden Populisten, die „allen Ausdrucksformen unserer kognitiven Spontanität politische Legitimität“ zuschreiben, eine abstoßende Karikatur an die Stelle eines realistischen Porträts der Menschheit setzen.
Analog zum antiken Mythos der Medusa, die man nur durch einen Spiegel betrachten kann, will man nicht zu Stein erstarren, sieht Gérald Bronner in seinem Buch ein Werkzeug dafür, das von uns selbst gezeichnete Zerrbild richtig analysieren und interpretieren zu können – ein bei aller Emphase immerhin lösungsorientierter Ansatz. Wie es jedoch ausgehend von seinem Befund gelingen soll, den „kostbaren Schatz“ unserer freigewordenen Gehirnzeit zu heben, wird auch im leider ziemlich nebulos geratenen Schlussteil seines Essays nicht klarer.
Georg Renöckl in Falter 42/2022 vom 21.10.2022 (S. 37)