Digitalisieren wir uns zu Tode? Ö1/Kontext

Hier nun noch die Rezension von Gérald Bronners Buch „Kognitive Apokalypse“ auf Ö1 – bis nächsten Freitag noch nachzuhören.

Kauen Sie noch oder wischen Sie schon? Der französische Soziologe Gérald Bronner lenkt die Aufmerksamkeit in einem Kapitel seines neuen Buchs auf eine der weniger beachteten Krisen unserer Zeit: Die Kaugummi-Industrie ist in Schwierigkeiten. Bis vor wenigen Jahren lebte sie nämlich vor allem von der Langeweile, die beim Warten an der Supermarktkassa unweigerlich entsteht, und platzierte ihre Produkte mit Vorliebe genau dort. Kaugummis stehen schließlich eher selten auf den Einkaufslisten, vielmehr handelt es sich dabei um einen klassischen Impulskauf. Jedenfalls war das früher so. Und heute?

Heute sind unsere Blicke und die unserer Kinder fest auf das Smartphone oder Tablet gerichtet. So ist unsere Aufmerksamkeit abgelenkt von den Präsentationen, die Süßwarenhersteller für uns ersonnen haben. Das Warten – und somit unsere mentale Verfügbarkeit – machte den Raum vor der Kasse zu einem strategischen Ort, doch aus genau denselben Gründen ist er inzwischen kontraproduktiv. Der bescheidene Anreiz, den diese Süßwarenständer darstellen, vermag nicht mit dem unseres Smartphones zu konkurrieren.

Unsere mentale Verfügbarkeit ist das zentrale Thema in Gérald Bronners Essay „Kognitive Apokalypse“, in dem er zunächst einen wahr gewordenen Menschheitstraum mit dem konfrontiert, was wir daraus machen. Denn die Zeit, in der ein großer Teil der Menschheit den überwiegenden Teil seiner Energie in den Kampf ums nackte Überleben stecken musste, ist noch gar nicht so lange her. Die Lebenserwartung lag im weltweiten Durchschnitt in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch bei 30 Jahren, heute liegt sie bei über 70. In Belgien betrug die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im Jahr 1870 noch 72 Stunden, heute sinkt sie in den entwickelten Ländern auf weniger als die Hälfte davon. Gerade einmal 11 Prozent seiner gesamten Lebenszeit verbringt ein durchschnittlicher Franzose im 21. Jahrhundert mit Erwerbsarbeit, um 1800 war es mehr als viermal so viel.

All das hat mit der Zeit zu einem spektakulären Fortschritt in der Verfügbarkeit unserer geistigen Fähigkeiten geführt. Die Menschheit hat sich nach und nach von den Zwängen befreit, die ihr nur wenig Zeit ließen, ihre höheren kognitiven Funktionen zu nutzen. Die Geschichte der freigesetzten Gehirnzeit macht es möglich, unsere gemeinsame Geschichte ganz anders zu denken. Unsere Vorfahren träumten häufig von diesem Augenblick, den wir heute erleben. Aber sahen sie auch voraus, dass aus diesem Traum ein Albtraum werden kann?

Gérald Bronner rechnet anhand statistischer Daten penibel aus, wie sich die von ihm so genannte „freigesetzte Gehirnzeit“ im Lauf der Jahrzehnte entwickelt hat. Etwa fünf Stunden stehen uns demnach heute für geistige Tätigkeiten aller Art zur Verfügung, was einer Verachtfachung im Vergleich zum Jahr 1800 entspricht. Damals glaubten die Aufklärer noch, der von den Zwängen des Überlebenskampfes befreite Mensch werde eines fernen Tages seine freigewordene Zeit der Weiterentwicklung seiner geistigen Fähigkeiten widmen. Der Soziologe von heute hingegen weiß, dass der durchschnittliche amerikanische 18-Jährige täglich im Schnitt 6 Stunden und 40 Minuten vor Bildschirmen verbringt. Und das nicht in erster Linie, um sich zu bilden.

Die digitalen Spuren, die wir überall hinterlassen, zeichnen ein wenig schmeichelhaftes Bild des modernen Menschen. Wir verbringen unsere Zeit mit Vorliebe mit der Suche nach Sex und Skandalen, geben uns der Angstlust hin und lassen uns von haarsträubenden Unsinnigkeiten in die Irre leiten, solang sie nur gut erzählt sind. Digitalisieren wir uns also zu Tode, wie man es in Anlehnung an Neil Postman formulieren könnte? Sind die omnipräsenten Bildschirme schuld? Bronner warnt vor dem einfachen Schluss. Vielmehr würden wir uns heute aufgrund des Bedeutungsschwundes traditioneller Medien und anderer Vermittlungsinstanzen auf einem deregulierten kognitiven Markt bewegen. Diesen begreift der Soziologe zuallererst als Mittel zur kollektiven Selbsterkenntnis.

Die Tatsache, dass unser Gehirn Aufmerksamkeit für jegliche egozentrische, auf Streit ausgerichtete, mit Sexualität oder Angst zusammenhängende Information entfaltet, zeichnet die Umrisse eines sehr realen Homo sapiens. Die Deregulierung des kognitiven Marktes lässt Wirklichkeit werden, was bislang nur als Möglichkeit existierte. In unserer langen Geschichte standen dieser Möglichkeit zahllose Regulierungen oder Unannehmlichkeiten im Wege: Zensur, religiöse Verbote, geografische Hindernisse, Informationsgrenzen, ein mehr oder weniger wohlwollender Paternalismus oder dergleichen. Dank der Deregulierung des kognitiven Marktes finden Angebot und Nachfrage dagegen mit guten wie mit schlechten Folgen zusammen und zwingen uns zu einem realistischen Bild unserer selbst.

Damit sind wir beim Titel von Gérald Bronners Essay angelangt: Er versteht das Wort „Apokalypse“ im biblischen Sinn als „Offenbarung“. Mit seinem Buch will er dazu beitragen, unser vom deregulierten kognitiven Markt nun also offenbartes kollektives Selbstporträt richtig zu interpretieren. Die Menschheit stehe schließlich vor großen Aufgaben, vom Kampf gegen den Klimawandel bis zur möglichen Begegnung mit außerirdischen Zivilisationen. Wie es jedoch ausgehend von Bronners Befund konkret gelingen soll, den „kostbaren Schatz“ unserer freigewordenen Gehirnzeit zu heben und zur Lösung dieser Aufgaben einzusetzen, wird leider auch im ziemlich nebulos geratenen Schlussteil seines Essays nicht klarer.

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