Die Zukunft der Schönheit

Meine Besprechung von F. C. Delius autobiographischer Erzählung „Die Zukunft der Schönheit“ für Ö1/Ex libris:

Musik und Literatur, vor allem Musik in der Literatur, das kann leicht schiefgehen. „Beschriebene Musik ist wie ein erzähltes Mittagessen“, soll Franz Grillparzer einmal gesagt haben.

Tatsächlich haben oft auch gute Erzähler ihre liebe Not, wenn es um die Beschreibung von Musik geht. Ist ein Musikstück dem Erzähler besonders wichtig, dann liest sich das schnell einmal gestelzt oder pathetisch, sodass sich angesichts allerlei angestrengter Vergleiche und bedeutungsschwerer Adjektive so gar nicht dieses Gefühl einstellen will, von dem da gerade die Rede ist. Musik trifft uns viel unmittelbarer als Literatur, sie dringt ungehindert in unseres Innerstes vor und berührt uns auf eine Weise, wie das der Sprache, die immer den Umweg über den Intellekt nehmen muss, nur ganz selten gelingt.

Das Problem kennt auch der Autor Friedrich Christian Delius. Anlässlich eines Konzerts des Tenorsaxophonisten Albert Ayler, das er im zarten Alter von 23 Jahren besuchte, schreibt er: „Was sollte man auch sagen über diese Töne, die schreckten und entzückten, störten und verwunderten, wie konnten solche minütlich wechselnden Gegensätze, wie konnte Musik überhaupt in stimmige Sprache gebracht werden, es war unmöglich, es war mir jedenfalls unmöglich.“ Trotz seiner anfänglichen Verstörung bleibt der junge Dichter im Konzert sitzen, und nicht nur das: Zweiundfünfzig Jahre später, also heuer, veröffentlicht Delius mit „Die Zukunft der Schönheit“ eine autobiographische Erzählung von immerhin gut neunzig Seiten, in der er genau dieses Konzert von der ersten bis zur letzten Nummer beschreibt.

Hat der in der Zwischenzeit unter anderem mit dem Büchner-Preis ausgezeichnete Friedrich Christian Delius also so viel dazugelernt, dass das Problem, Musik in stimmige Sprache zu bringen, für ihn nicht mehr besteht? Gut möglich. Zumindest die Überforderung seines jüngeren Ichs schildert der heute 75-jährige Autor angesichts des avantgardistischen Spektakels recht anschaulich: „Das Saxophon ließ Töne hören, die noch nie zuvor aus einem Saxophon herausgestoßen worden waren, so schien es mir, der keine Ahnung hatte, der noch nicht einmal einen Plattenspieler besaß, aber abends und nachts beim schreibenden Arbeiten sich von Klassik oder Jazz aus dem Radio begleiten ließ und nun den zahmeren John Coltrane verglich mit dem zehn Meter nahen Albert Ayler mit seinen schneidend hohen, explosiven, fauchenden, jubelnden, flehenden Tönen – “

Vor allem aber bleibt es dann doch nicht bei der Beschreibung der Musik. Bald erkennt der Dichter erleichtert, dass er nicht beim Jazzabend einer psychiatrischen Anstalt gelandet ist, sondern die Musik schlicht ihre Zeit widerspiegelt. „Die Winde wechseln, hatte der ermordete Präsident gesagt, die Töne wechseln, schien Albert Ayler seinen Zuhörern zu sagen, die Töne brechen auf, die Zeiten auch.“ Der Präsident, von dem gerade die Rede war, ist John F. Kennedy. Zwischen der von Delius durchaus stimmig in Sprache gebrachten Musik Albert Aylers und den Reflexionen und Assoziationen des zuhörenden Dichters entspinnt sich ein Zwiegespräch, das Delius von der Gegenwart des Vietnamkriegs immer tiefer in die Vergangenheit führt. Er erinnert sich an sein eigenes Aufwachsen in einer deutschen Kleinstadt voller Honoratioren mit Nazivergangenheit, den Tanzkurs mit den „Massenmördertöchtern“, den tagtäglichen Kampf um die Sprache, den er als stotternder Knabe führen musste, eingeschüchtert vom eines Tages plötzlich aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Vater. In der Mitte des Buches taucht ein Bild auf, das der junge Delius für den Rest des Konzerts nicht mehr loswerden wird: Der groteske Anblick des wütenden Vaters im Schlafanzug, der seinen Kopfpolster nach dem sonst immer so folgsamen Sohn wirft, als dieser ein einziges Mal zu spät von einer Feier nach Hause kommt.

„Ich will nicht so weit gehen zu behaupten, auch deshalb – oder, weil Übertreibung gefragt ist, nur deshalb, – ein Schriftsteller geworden zu sein, weil diese Leerstelle aus der Nacht meines siebzehnten Geburtstags immer wieder mit Worten gefüllt werden musste“, schreibt der Erzähler. Wie so viele andere Väter wurde auch Delius senior zum Wegweiser wider Willen, indem er in seinem Sohn vor allem den Widerspruchsgeist weckte.

Es bleibt in dieser Nacht voll nie gehörter Töne nicht beim Aufspüren alter Verletzungen. Das Gefühl, „einen größeren Sprung getan zu haben, wohin auch immer“ steigt im jungen Delius auf, der sich mit dem toten Vater aussöhnt und über die Kunst nachzudenken beginnt, angeregt von einer Musik, die mit jeder Tradition bricht. Dieses „Zerfetzen von Klischees und Erwartungen“, begreift Delius als notwendige Voraussetzung für das Schaffen von Neuem. „Erst ein kräftiges Nein und dann ein tief durchgeatmetes Ja, erst nach dem Niederreißen konnte die Zukunft beginnen, Licht, Luft, Wahrhaftigkeit, die Zukunft der Schönheit.“

Nun ist der Kampf der Neuerer gegen die Etablierten wohl so alt wie die Kunst selbst, auch wenn der Begriff der Avantgarde mittlerweile etwas an Strahlkraft eingebüßt hat. Muss man das Alte zerstören, um es zu überwinden, oder sind wir doch nur Zwerge auf den Schultern von Riesen, wie ein anderes Erklärungsmodell den Fortschritt der Kultur beschreibt?

Für Delius ist der Freejazz-Abend in Slugs‘ Saloon jedenfalls ein „Ritus der Initiation“, der sein weiteres künstlerisches Schaffen nachhaltig prägen wird, auch wenn er – und das kann man durchaus als Widerspruch in sich sehen – den Abend und seinen Gedankenstrom in souverän eleganten Sätzen schildert und dabei laufend Camus, Goethe und viele andere zitiert.

Und so entlässt er den Leser nach neunzig leichtfüßigen und tiefschürfenden, scheinbar frei dahinimprovisierten und doch genau durchkomponierten Seiten mit vielen offenen Fragen, die es wert sind, weitergedacht zu werden. Selbst die vorangegangenen Versuche, das an diesem Abend Gehörte nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu begreifen, relativiert der Erzähler gegen Ende: „Was hieß da verstehen, bei etwas Geheimnisvollem wie Klang, wie Spielkunst, wie Kunst, was sollte da der kleingeistige Trotz des Verstehenwollens. Man musste sich tragen lassen, weiter nichts [… ].“

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