Die Landstraße

Keine leichte Kost, aber davon gibt es eh genug. Vor über hundert Jahren erschienen die Erzählungen Regina Ullmanns in ihrem Sammelband „Die Landstraße“ zum ersten Mal, nun wurden sie neu aufgelegt. Meine Besprechung für Ö1-Ex libris, hier zum Nachhören.

Staubige Landstraßen, auf denen die Erzählerin und ihre Figuren dahinwandern, immer erschöpfter werdend. Einsame, armselige Häuschen. Wildreiche Wälder, zwitschernde Vöglein, murmelnde Bächlein. Dienstboten und Herrschaften. Reiche Bauern, arme, blitzsaubere Mägde, schneidige Bauernburschen, jeder an seinem Platz. Eine archaische Welt, in einer archaischen Sprache geschildert. „Ich inzwischen dürstete und wurde wirklich einer Mahlzeit bedürftig. Der Staub hatte mich doch nicht ganz gespeist und getränkt. Und nun konnten wir unserer ansichtig werden. Der Gast und ich: Es war der Tod.“

Trotz der altertümelnden Sprache und der scheinbar intakten alten Ordnung ist die Welt in Regina Ullmanns Erzählungen alles andere als heil: „Eine unheimliche Landstraße war das. Eine allwissende Landstraße. Da ging nur, wer in irgendeinem Sinne allein gelassen worden war.“

Regina Ullmann, 1884 in der Schweiz als Tochter eines jüdischen Kaufmanns aus Vorarlberg und einer literaturbegeisterten Deutschen geboren, litt als Kind unter Sprech- und Schreibhemmungen. Als Bibliothekarin der Bayrischen Staatsbibliothek kam sie mit zahlreichen Dichtern in Kontakt, darunter Rainer Maria Rilke, der zu ihrem Mentor und Förderer wurde. Zu einer gewissen Bekanntheit verhalf ihr der Erzählungsband Die Landstraße, der erstmals 1921 erschien und nun bei Nagel und Kimche neu aufgelegt worden ist.

Die anderswo längst in vollem Gang befindliche Moderne brettert darin zwar in Gestalt des einen oder anderen „abscheulichen Radfahrers“ über die dem Band seinen Titel gebende Landstraße, doch die Erzählerin fährt lieber ein Stück auf einer altvertrauten Kutsche mit. Dort darf sie dann ausgerechnet auf einer Kiste Platz nehmen, in der eine bunt schillernde, teuflische Schlange transportiert wird, während der nicht minder teuflische Radfahrer in der Ferne verschwindet.

„Wir sind eben von der Welt umgeben, von dem, was uns beisteht, und von dem, was uns bedroht. Wir erkennen es nur nicht gleich“, schreibt Regina Ullmann. Bei ihren Versuchen, diese sie umgebende Welt zu begreifen, entdeckt die Erzählerin überall rätselhafte Zeichen und fühlt sich allenthalben von wartenden Menschen beobachtet. Sie meint vor allem Bedrohliches, Unheimliches und Dämonisches in ihrer Umgebung wahrzunehmen. Sich an der Schönheit des Lebens zu freuen, fällt ihr schwerer:

„[D]as Leben müsste doch schön sein, schön mit der Welt sein. Sie war der Fenstervorhang, sie war der Geranienstock. Sie war die Uhr und die Lampe. Sie war unser Bett, unser Tisch. Sie war die Tür, zu welcher wir hereintraten und zu welcher wir hinausgingen. Und war sie nicht da, die Welt, so war alles nur Kulisse, windige Kulisse, und vor dieser Tür war nichts, war der Abgrund. Unser Abgetrenntsein war da, unsere furchtbare, selbstgeschaffene Absonderung.“

In den Geschichten, Visionen und Wachträumen, von denen Ullmann erzählt, geht es um Außenseiter, zerbrechliche Glücksmomente, um rätselhafte oder grauenvolle Begebenheiten. Sie folgen nicht den gewohnten Bahnen, Spannungsbögen und story-telling-Rezepten, sondern beginnen oft mit langatmigen Abschweifungen oder nehmen in den letzten Zeilen noch unerwartete Wendungen. Manchmal brechen sie einfach ab oder springen wild zwischen Erzählung und Interpretation hin und her. Nicht zuletzt fordern sie ihre Leser durch eine Sprache, der die Autorin das Äußerste abverlangt, was die deutsche Grammatik an Deklinationen und selten gebrauchten Endungen und Wendungen hergibt. Wer Freude an solcherart spröder Schönheit hat, wird hier reich beschenkt. Ullmanns eigenwilliger Stil ist aber keine Spielerei und keine hohle Virtuosität bei der Suche nach größtmöglicher syntaktischer Originalität. Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich geht es ihr stets ums große Ganze. Immer wieder gelingen der mit ihren Sätzen ringenden Autorin Beobachtungen und Aussagen, die weit über diese Erzählungen hinausweisen und bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben.

„[W]enn das Leben auch schwer ist, auf eine unsichtbare Weise, auf eine geheime, ist es dennoch in einem Taumel. Dies Leben hat wahrhaftig noch irgendwo eine Tanzbodenmusik, der wir nur noch nicht ganz auf die Spur gekommen sind.
Es ist ein Tempo, das uns selig mit sich fortnimmt, meistens in der Liebe. In der Liebe zu einer Person, oder zum Geld oder zu einer Arbeit. Es kann auch natürlich der Hass sein, die Niedertracht. Das ist ganz gleich. Es kann auch Dummheit sein und Gedankenlosigkeit, auch das ist ein Taumel.“

Eine eigenwillige Spiritualität spricht aus den Gedankengängen der vom Judentum zum Christentum übergetretenen Autorin, die das Individuum als Teil eines größeren Ganzen betrachtet und das Leben des oder der Einzelnen nicht losgelöst vom Leid und den Qualen betrachten kann, die irgendwo gelitten werden.

Dennoch leuchtet stets ein Hoffnungsschimmer in dieser düsteren Welt: Wenn die Hölle frei nach Strindberg kein Ort, sondern ein Gemütszustand ist, dann besteht eben auch die Möglichkeit, sich immer wieder dagegen zu entscheiden – auch, wenn es schwerfällt.

„[W]enn man fühlt, wie auch alle stummen Dinge Eigner und Träger des Lebens sind zu einer guten Stunde, dann wird man zuversichtlicher, tröstlicher und nicht vergeblich. Man ist ja selber jung und gehört zu der Schönheit eines Junitages, ist tief darinnen wie Amselsang. Aber weil man das sein kann, ohne Anteil an den Mühen des Daseins zu haben, und weil man doch wiederum nicht bereit ist, wie ein Vogel aus der Luft zu fallen, weil man immerhin ein Gehäuse braucht und nicht den Erdboden nur wie ein Relief betrachten mag, so ist man auch in der Schönheit gefährdet. […] Da muss uns die Klarheit helfen, noch zur rechten Stunde, die von vielen Menschen die Liebe geheißen wird, die immergrüne Landschaft des eigenen Herzens.“

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