Die Kinder sind Könige

Die Hölle, das sind die Influencer

Die junge Pariser Kripo-Beamtin Clara Roussel hat sich ihren guten Ruf hart erarbeitet. An Tatorten ist sie für die Spurensicherung verantwortlich, bei Autopsien bleibt sie anwesend. Körperflüssigkeiten und -teile aller Art bringen sie längst nicht mehr aus der Fassung. Doch nun ist die eigenwillige, toughe und brillante Kriminalistin in einen Fall verwickelt, bei dem sie an die Grenzen des Erträglichen stößt: eine Entführung im Kinder-Influencer-Milieu. 

 „Es ist eine Welt, deren Existenz unsere Vorstellungskraft übersteigt“, stellt sie geschockt fest, nachdem sie sich die Videos einer entführten Sechsjährigen namens Kimmy angesehen hat. Deren Mutter Mélanie betreibt in Delphine de Vigans Roman „Die Kinder sind Könige“ einen millionenfach abonnierten Youtube-Kanal. Da gibt es live übertragene Shoppingtouren, bei denen die Abonnenten Kaufentscheidungen treffen dürfen, aufwendig zelebriertes Unboxing von Spielzeug sowie Challenges, bei denen Kimmy und ihr Bruder alles kaufen dürfen, was mit einem bestimmten Buchstaben beginnt. Mutter und Kinder sind stets quietschvergnügt und vergessen nie auf den freundlichen Hinweis, doch bitte ein Like zu hinterlassen, und leben dank lukrativem Product Placement in Saus und Braus. 

Nun ist Kimmy verschwunden, bald trudelt der erste Erpresserbrief ein. Ermittlerin Clara, die sich nie für soziale Medien interessiert hat und zunächst gar nicht versteht, warum dort immer alle vom „Teilen“ reden, macht sich aufs Schlimmste gefasst. Die kinderlose Kriminalistin ist das exakte Gegenteil der zur Gänze in ihrer Mutterrolle aufgegangenen Mélanie, die schon als junge Frau Reality-TV-Star werden wollte. Heute ist Mélanie stolz auf das Schlaraffenland voll Süßigkeiten, Spielzeug und Markenkleidung, das sie – dank einer gewissen innerfamiliären Disziplin – für ihre Kinder geschaffen hat. 

 Delphine de Vigan hat sich in den letzten 20 Jahren einen Namen als Autorin für schwierige und tabuisierte Themen wie Magersucht oder bipolare Störung gemacht. Ihre Wirkung entfalten Vigans preisgekrönte Romane, ohne dass die Erzählerin dafür den moralischen Zeigefinger auch nur einen Millimeter heben muss. Vielmehr schneidert sie ihren Figuren die genau zu ihnen passende Sprache auf den Leib, was tiefer blicken lässt als jeder erklärende Kommentar. So auch im Fall der Influencerin Mélanie: Diese offenbart in ihrer mit beinhartem Geschäftssinn gepaarten Naivität die ganze Widersprüchlichkeit und Unmenschlichkeit der Social-Media-Scheinwelt, in der sie ihre Kinder aufzuwachsen zwingt. 

 Dass man sich bei aller Gesellschaftskritik von „Die Kinder sind Könige“ auch hervorragend unterhalten fühlt, liegt am bitterbösen Humor der Erzählerin, an der gekonnt orchestrierten Spannung sowie an liebevoll gezeichneten Figuren, die mit allerlei sympathischen Schrullen, ungewöhnlichen Vorgeschichten und interessanten erotischen Vorlieben ausgestattet sind. 

 „Was können sich Kinder wünschen, die alles haben? Was sind das für Kinder, die so leben, begraben unter einer Lawine von Spielzeug, das sie sich mangels Zeit nicht einmal haben wünschen können? Welche Art von Erwachsenen wird aus ihnen?“ Die Erzählerin lässt ihre Ermittlerin nicht nur die richtigen Fragen stellen, sondern bemüht sich auch selbst, Antworten zu finden. Sie wirft im letzten Teil des Romans einen Blick ins Jahr 2030. Dass diese recht nahe Zukunft, „in der es „nur deshalb ‚Kopf hoch‘ heißt, weil den Anforderungen der Gesichtserkennung Genüge getan werden soll“, als eher düster imaginiert wird, überrascht nicht. Immerhin eröffnet de Vigan ihren Figuren doch noch den einen oder anderen Ausweg. Nur Mélanie bleibt unerschütterlich bei dem, was sie am besten kann: „Sie tut den Leuten gut. So ist das einfach. Sie ist eine Fee geworden, eine moderne Fee, ja. Sie braucht keinen Zauberstab, nur ein paar Kameras und einen großen Vorrat Liebe, die sie schenken kann.“ Ob das für ein Happy End reicht, wird man sehen.

Georg Renöckl in Falter 11/2022 vom 18.03.2022 (S. 8)

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