Schwer, bei einem Thema wie dem Terrorangriff der Hamas und dem seither andauernden Krieg im Gazastreifen sachlich zu bleiben. Genau das gelingt aber dem freien Autor Joseph Croitoru, der in seinem neuen Buch die Geschichte der islamistischen palästinensischen Organisation „sine ira et studio“ erzählt. Wer in der aufgeheizten Nahost-Debatte Daten und Fakten vermisst, sollte zu diesem Buch greifen. Hier meine Besprechung für Ö1-Kontext.
Augenzeugenberichte, Videoaufnahmen, verstümmelte Leichen sowie die Geständnisse gefangengenommener Hamas-Kämpfer lassen keinerlei Zweifel an der extremen Grausamkeit bestehen, mit der am 7. Oktober 2023 hunderte israelische Zivilisten ermordet wurden. Dennoch qualifizieren auch angesehene Intellektuelle wie jüngst die Philosophin Judith Butler den Terrorangriff der Hamas auf Israel als einen Akt des bewaffneten Widerstands, der sich nicht gegen wehrlose Zivilisten gerichtet habe, sondern gegen einen gewalttätigen Staatsapparat.
Die von solchen Stellungnahmen ausgelösten Debatten verlaufen in der Regel hitzig. Das Gegenteil davon, nämlich nüchterne Zahlen und Fakten zur Hamas, liefert der deutsche Historiker und Autor Joseph Croitoru in seinem Buch Die Hamas. Herrschaft über Gaza. Krieg gegen Israel.
Georg Renöckl hat es gelesen.
Wann genau der Krieg Israels gegen die Hamas zu Ende sein wird, wissen wir heute nicht. Mit Sicherheit wird mit ihm jedoch auch die Herrschaft der islamistischen Organisation im Gazastreifen enden. Davon ist zumindest Joseph Croitoru überzeugt, der in seinem neuen Buch sowohl die Geschichte der Hamas als auch die des Gazastreifens erzählt. Dort lebten vor der Gründung Israels etwa 90.000 Menschen, zu denen binnen kürzester Zeit 200.000 Flüchtlinge kamen. Einer von ihnen ist Ahmad Jassin.
Der 1936 geborene Lehrer stammte aus dem nördlich des Gazastreifens gelegenen, von den Israelis zerstörten palästinensischen Dorf al-Dschura und lebte im Flüchtlingslager Schati in Gaza. Dort hatte er schon vor 1967 in einer notdürftig eingerichteten Moschee ein Zentrum nach dem Vorbild der Muslimbrüder eröffnet, wo Koranunterricht erteilt und den Kindern im Ort Sportaktivitäten und Sommerlager angeboten wurden. Unter der israelischen Besatzung baute Jassin die Organisation weiter aus und sorgte dafür, dass im Gazastreifen, vor allem in den Flüchtlingslagern, weitere solcher Zentren entstanden.
In den 1980er Jahren kommt es zu ersten Zusammenstößen zwischen säkularen Palästinensern und den Islamisten. 1987 geben sich diese den Namen „Hamas“, ein Akronym, das gleichzeitig „Islamische Widerstandsbewegung“ und „Eifer“ bedeutet. In ihrer am 18. August 1988 veröffentlichten Charta definiert sich die Hamas als islamische und arabisch-patriotische Widerstandsbewegung mit dem Ziel, Israel zu vernichten. Den Friedensprozess zwischen Israel und der PLO will sie um jeden Preis zum Scheitern bringen.
Im Machtkampf mit der PLO waren die Terroranschläge der Hamas auch eine indirekte Reaktion auf den 1994 begonnenen Aufbau der Palästinensischen Autonomiebehörde, in den die Mehrheit der Palästinenser ihre Hoffnung auf Freiheit und Unabhängigkeit setzte und der auch deshalb nicht mehr aufzuhalten war. Den Islamisten blieb im Moment nicht viel anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass sich diese Erwartungen nicht erfüllten und ihnen ein Scheitern des von Arafat eingeschlagenen Friedenskurses wieder Aufwind geben würde.
Die Strategie der Hamas ist erfolgreich, ihr Terror stärkt die israelische Rechte. Am 5. November 1995 erschießt ein israelischer Extremist Premierminister Itzhak Rabin. Kurz darauf gewinnt Benjamin Netanjahu die Wahlen und beendet die israelisch-palästinensische Annäherung. Die Hamas sorgt mit Selbstmordattentaten für Angst und Schrecken.
In der Schrift Die Märtyrertod-Operationen aus der Sicht des Religionsgesetzes wies der Hamas-Ideologe Nawaf al-Takruri zwar darauf hin, dass das Töten von Zivilisten im Islam grundsätzlich verboten sei. Allerdings gebe es auch Ausnahmen, und die träfen auf den israelischen Fall zu, da es sich bei Israelis und Israelinnen in der Regel um Soldaten und der Armee zur Verfügung stehende Reservisten handele und somit nicht um schutzwürdige Zivilpersonen.
Israels Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 interpretiert die Hamas als Folge ihres Terrorkriegs. 2006 gewinnt sie die palästinensischen Autonomieratswahlen, 2007 kommt es zum offenen Kampf zwischen Fatah und Hamas im Gazastreifen, bei dem sich letztere durchsetzt und von nun an die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen umformt.
Die erzwungene Islamisierung des öffentlichen Lebens und der Gesellschaft schritt auch deshalb voran, weil die Hamas, seit sie die Kontrolle über den Gazastreifen gewaltsam übernommen hatte, dort ungehindert ihre politischen und religiösen Institutionen mit ihrem sozialen Netz, einem eigenen Erziehungssystem, ihrer Polizeimiliz und dem militärischen Flügel weiter verzahnen konnte.
Mit finanzieller Unterstützung aus dem Iran legt die Hamas ihr unterirdisches Tunnelsystem an. Nach dem zweimonatigen Gaza-Krieg im Sommer 2014 kommt es zu einer Phase relativer Ruhe. Benjamin Netanjahu ist an einem Fortbestehen der Hamas als Konkurrenz zur säkularen Fatah interessiert.
Ab 2018 mehren sich die Warnsignale. Hamas-Propagandavideos zeigen das Training von Überfällen auf Grenzdörfer. Die Gewalt in der Westbank nimmt zu, militante Siedler werden von der israelischen Armee mit Waffen versorgt. Benjamin Netanjahu reagiert nicht auf die Warnungen des Geheimdiensts. Am frühen Morgen des 7. Oktober 2023 stürmen zweitausendfünfhundert palästinensische Bewaffnete die Grenzanlagen. Auch den Terrorangriff und den Verlauf des israelischen Kriegs gegen die Hamas erzählt Croitoru nüchtern und faktenorientiert, was angesichts der Opferzahlen und der vorläufigen Bilanz der Zerstörung aufwühlend genug ist. Das bisherige Fazit:
Der Hamas, so viel scheint jedenfalls schon festzustehen, wird Israel das Gebiet nie wieder überlassen. Ihre eineinhalb Jahrzehnte währende Alleinherrschaft in Gaza wird in die Annalen der Region wohl als weiterer gewaltsam verhinderter Versuch eingehen, ein islamistisches Regime zu etablieren – ähnlich dem ihrer Mutterorganisation, der Muslimbrüder in Ägypten.
Beendet wird der Nahostkonflikt damit freilich nicht sein. Auch Joseph Croitorus Geschichte der Hamas zeigt keine Lösung auf, oder höchstens eine indirekte: Der Autor führt eindrücklich vor Augen, wie gut es der Hamas durch ihren Terror über die Jahre gelang, vielversprechende Friedensbemühungen zu sabotieren, Hass zu säen und die Gesellschaften Israels und der Palästinensergebiete zu radikalisieren. Wie das Gegenrezept dazu aussieht, weiß hingegen niemand.