Saint-Denis macht gerade eine erstaunliche Metamorphose durch. Hier mein Bericht für den „Standard“:
Banlieue war gestern
Pariser Viertel Saint-Denis: Von der No-go-Area zu neuem Glanz
Gerade noch war Saint-Denis ein berüchtigtes Viertel nördlich von Paris. Bessere Infrastruktur und Architektur machen es nun zum zentralen Knotenpunkt
Georg Renöckl
2. Februar 2025, 13:38
Eine Art Wahrzeichen war der Pleyel-Turm schon immer: Auf dem Dach des rostigen und asbestverseuchten Hochhauses drehte sich jahrzehntelang die größte rotierende Leuchtreklame Europas, 34 Meter breit, fünf Meter hoch. Gut eine Million Menschen sahen die Werbetafel pro Tag, auch dank ihrer Nähe zur Nordautobahn und dem Pariser Boulevard Périphérique. Das Hochhaus darunter war als einziger von vier geplanten Türmen knapp vor der Ölkrise von 1973 fertig gebaut worden.

„Damals gab es hier mehr Schwerindustrie als im Ruhrgebiet“, erklärt der staatlich geprüfte Fremdenführer Tristan Bayle, der selbst in der Nähe wohnt. Er hat bereits vor den Olympischen Spielen damit begonnen, seine Gruppen nicht mehr nur durch den Louvre und nach Versailles, sondern auch durch Saint-Denis, die nördliche Vorstadt von Paris, zu führen, die damals von der Deindustrialisierung schwer getroffen wurde.
Skybar in 140 Meter Höhe
Heute reibt man sich beim Anblick des wie ein Phönix aus dem Asbest gestiegenen, strahlend weißen Turms die Augen. Er hört nun auf den klingenden Namen „H4 Hotel Wyndham Paris Pleyel Resort“ und ist mit 700 Zimmern auf 40 Etagen das größte Hotelprojekt im Raum Paris seit 50 Jahren. Auf 140 Meter Höhe befindet sich eine öffentlich zugängliche Skybar, Hotelgäste können gleich daneben im höchsten Swimmingpool Frankreichs planschen. Wer verstehen will, warum ein solches Projekt ausgerechnet hier umgesetzt wurde, muss dort hinauf. Auf dem Weg durch die Hotellobby erinnert ein Klavier an die Vergangenheit des Ortes, auch die gibt es nicht ohne Superlativ: Früher stand hier eine vom niederösterreichischen Komponisten Ignaz Pleyel begründete Klavierfabrik. „Sie verkaufte 1889 als erste der Welt ihren hunderttausendsten Flügel“, weiß Fremdenführer Tristan.
Oben im 40. Stock wurde aus dem Betonsockel der Leuchtreklame eine Konzertbühne, die entsprechend „The Stage“ genannte Bar rundherum bietet einen atemberaubenden Ausblick über Paris aus ungewohnter Perspektive. Der Grund für die nicht minder faszinierende Veränderung des Areals liegt dem Turm aber direkt zu Füßen: Der vom japanischen Architekten Kengo Kuma geplante neue Bahnhof Saint-Denis-Pleyel ist gewissermaßen das Herz der unter dem Namen „Grand Paris“ zusammenwachsenden französischen Hauptstadtregion.

Die dazugehörigen Arterien sind fünf neue, vollautomatische Metrolinien, „Grand Paris Express“ genannt, die das Zentrum, die Vorstädte und die Flughäfen des Zwölf-Millionen-Einwohner-Ballungsraums verbinden. Bis 2030 erweitern sie das Pariser Metro-Netz um 200 Kilometer und 68 Bahnhöfe, 25 Tunnelbohrmaschinen wühlen sich durch den Untergrund rund um die Hauptstadt. Der Transitort Saint-Denis wird mit vier neuen Linien zum zentralen Knotenpunkt, an dem einmal 250.000 Menschen täglich ein- oder umsteigen sollen.
Entsprechend großzügig ist das neunstöckige Bahnhofsgebäude dimensioniert. „Sehr sicher und sehr schön“, findet Laurence, die hier in die Linie 14 einsteigt, den neuen Bahnhof, denn: „Das natürliche Licht scheint bis zum Bahnsteig hinunter.“ Und der liegt immerhin in 27 Meter Tiefe. Noch wirken die wenigen Reisenden hier etwas verloren, doch das wird sich spätestens 2030 ändern – dann verbindet der Grand Paris Express den Flughafen Charles-de-Gaulle über Saint-Denis-Pleyel in nur 20 Minuten mit dem Pariser Stadtzentrum.
Raum für Märkte und Feste
Auch das Gebäude unmittelbar neben Kengo Kumas Bahnhof betrachtet man zunächst am besten aus der olympischen Perspektive der Skybar: Marc Mimrams „Franchissement Urbain Pleyel“ (FUP). Diese „Urbane Überquerung“ einfach mit „Brücke“ zu übersetzen, trifft die Sache nicht ganz. Die 20 Meter breite, 300 Meter lange Struktur ist auch Bühne, Aussichtsplattform und Raum für Märkte und Feste. Bis zu 4000 Menschen können gleichzeitig den darunterliegenden Schienenstrang überqueren, mit 48 Gleisen der drittbreiteste der Welt. „Typisch für eine Gegend, die bisher dem Zentrum zu Diensten sein musste“, findet Tristan. „Das ist eine urbane Bruchlinie, und von denen gibt es hier viele.“ Die auf nur drei Pfeilern ruhende Konstruktion aus 8800 Tonnen Stahl – mehr, als im Eiffelturm verbaut wurde – macht die bisher unüberwindliche Barriere mit einem Mal durchlässig.
Das werden auch die künftigen Bewohner des neuen Stadtteils gleich nebenan zu schätzen wissen. Auf einer Industriebrache am Seine-Ufer wurde nach einem Masterplan von Dominique Perrault das olympische Dorf errichtet. Hier entstehen nun 2800 Wohnungen sowie ein Campus des Innenministeriums für 2500 Mitarbeiter. 70 Prozent des Wärme- und Kühlungsbedarfs werden durch Geothermie abgedeckt, Windschneisen sorgen für Frischluft, die Gebäude wurden aus Holz und grünem Beton errichtet.

Einen kritischen Blick wirft die junge Architektin Marianna Kontos auf die ökologische Mustersiedlung. In ihrer Doktorarbeit über die „Herausforderungen für die Demokratie bei der Herstellung der Stadt“ stellt sie die Frage, wer von der neuen Infrastruktur profitieren wird. Sie erzählt, dass hier auch Gastarbeiter lebten, die delogiert und auf Ersatzquartiere aufgeteilt wurden. „Ihre Gemeinschaft ist zerstört. Und sie werden auch nicht mehr zurückkommen können“, weist Kontos auf die steigenden Preise hin. „Das olympische Dorf und die neue Metro wurden für eine Mittelschicht gebaut, die jetzt noch gar nicht hier wohnt.“
So negativ sieht Tristan die Veränderung nicht. „Achtzig Prozent der Investitionen in die Infrastruktur vor Olympia wurden hier bei uns ausgegeben. In einer viel zu lang vernachlässigten Vorstadt gibt es jetzt ordentliche Schwimmbäder, neue Radwege und fünf neue Brücken. Durch die neue Metro werden die Pariser begreifen, dass Grand Paris mittlerweile Wirklichkeit geworden ist. Und dass es hier viel zu tun und zu sehen gibt.“
Investitionen statt Repression
Nicht nur die neuen Viertel, auch das historische Zentrum von Saint-Denis selbst erstrahlt seit dem Sommer in neuem Glanz. Grand Paris ist eine Antwort auf die Vorstadtproblematik, die nicht auf Repression und Abschottung setzt, sondern auf das genaue Gegenteil: Institutionen übersiedeln in die Vorstädte, wo in öffentliche Räume investiert wird, in bessere Verbindungen für Fußgänger und Radfahrende, und vor allem: in ein leistungsfähiges öffentliches Verkehrsnetz. Inwieweit dadurch Probleme nur verlagert und Menschen verdrängt werden, wird die Zukunft zeigen. Die Banlieue, wie man sie bisher kannte, wird es dann allerdings nicht mehr geben. (Georg Renöckl, 2.2.2025)